Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 2 Juni 2016 (België). RG 85/2016
- Sectie :
- Rechtspraak
- Bron :
- Justel D-20160602-5
- Rolnummer :
- 85/2016
Samenvatting :
Der Gerichtshof erkennt für Recht: Artikel 1 § 2 Absatz 1 Nr. 4 Buchstabe d) in Verbindung mit den Artikeln 1 § 2 Absatz 1 Nr. 8 und Nr. 9 und 15 § 3 Absatz 1 des Gesetzbuches über die belgische Staatsangehörigkeit verstößt nicht gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung.
Arrest :
Der Verfassungsgerichtshof,
zusammengesetzt aus den Präsidenten E. De Groot und J. Spreutels, und den Richtern L. Lavrysen, A. Alen, J.-P. Snappe, J.-P. Moerman, E. Derycke, T. Merckx-Van Goey, P. Nihoul, F. Daoût, T. Giet und R. Leysen, unter Assistenz des Kanzlers F. Meersschaut, unter dem Vorsitz des Präsidenten E. De Groot,
erlässt nach Beratung folgenden Entscheid:
I. Gegenstand der Vorabentscheidungsfragen und Verfahren
In seinem Urteil vom 21. April 2015 in Sachen Mesut Turan, dessen Ausfertigung am 30. April 2015 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat das Gericht erster Instanz Eupen folgende Vorabentscheidungsfragen gestellt:
« 1) Verstößt Artikel 1, 4° in Verbindung mit Artikel 1, 8°, 1, 9° und 15 § 3 des Gesetzbuches über die Belgische Staatsangehörigkeit gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung und stellt dies eine ungleiche Behandlung der Kandidaten auf Zuerkennung der belgischen Staatsbürgerschaft dar, indem der Sozialbetrug generell als Verstoß gegen die Sozialgesetzgebung definiert wird und für die Steuerhinterziehung der Verstoß in betrügerischer Absicht oder mit der Absicht zu schaden, begangen werden muss?
2) Verstößt Artikel 1, 4° in Verbindung mit Artikel 1, 8°, 1, 9° und 15 § 3 des Gesetzbuches über die Belgische Staatsangehörigkeit gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, wenn diese Bestimmungen dergestalt interpretiert werden, dass bei einer Verurteilung aufgrund eines Verstoßes gegen die Sozialgesetzgebung dem beurteilenden Richter kein Ermessenspielraum gelassen wird, ob der der strafrechtlichen Verurteilung zugrunde liegende Sachverhalt als schwerwiegender persönlicher Fakt zu werten ist oder nicht? ».
(...)
III. Rechtliche Würdigung
(...)
B.1. Die Staatsangehörigkeitserklärung ist neben dem Einbürgerungsantrag eine der Weisen, wie ein Ausländer die belgische Staatsangehörigkeit erwerben kann.
Der Ausländer muss dazu bestimmte Bedingungen, die in Artikel 12bis des Gesetzbuches über die belgische Staatsangehörigkeit erwähnt sind, erfüllen und vor dem Standesbeamten seines Hauptwohnortes die in Artikel 15 § 1 Absatz 1 desselben Gesetzbuches erwähnte Erklärung abgeben.
Ist die Erklärung vollständig und zulässig und ist die geschuldete Registrierungsgebühr entrichtet worden, stellt der Standesbeamte eine Empfangsbestätigung aus und übermittelt er dem Prokurator des Königs beim Gericht erster Instanz des Amtsbereiches zwecks Stellungnahme eine Kopie der gesamten Akte (Artikel 15 § 2 Absätze 4 und 8 des erwähnten Gesetzbuches).
B.2. Der fragliche Artikel 15 § 3 Absatz 1 des Gesetzbuches über die belgische Staatsangehörigkeit bestimmt:
« Innerhalb einer Frist von vier Monaten ab dem Datum der in § 2 erwähnten Empfangsbestätigung kann der Prokurator des Königs eine negative Stellungnahme in Bezug auf den Erwerb der belgischen Staatsangehörigkeit abgeben, wenn ein Hindernis vorliegt wegen schwerwiegender persönlicher Fakten, die er in der Begründung seiner Stellungnahme genau angeben muss, oder wenn Grundbedingungen, die er angeben muss, nicht erfüllt sind ».
Im Falle einer negativen Stellungnahme kann der Ausländer den Standesbeamten auffordern, seine Akte dem Gericht erster Instanz zu übermitteln, das über die Begründetheit der negativen Stellungnahme befindet (Artikel 15 § 5 des vorerwähnten Gesetzbuches).
B.3. Der ebenfalls in Rede stehende Artikel 1 § 2 Absatz 1 Nr. 4 Buchstabe d), Nr. 8 und Nr. 9 desselben Gesetzbuches bestimmt:
« Für die Anwendung des vorliegenden [Gesetzbuches] ist beziehungsweise sind zu verstehen unter:
[...]
4. schwerwiegenden persönlichen Fakten: insbesondere folgende Sachverhalte:
[...]
d) dem Antragsteller von einem Richter auferlegte formell rechtskräftige endgültige Strafe aufgrund irgendeiner Form der Steuerhinterziehung oder des Sozialbetrugs,
[...]
8. Sozialbetrug: Verstöße gegen die sozialen Rechtsvorschriften,
9. Steuerhinterziehung: Verstöße gegen die Steuergesetzbücher oder ihre Ausführungserlasse, die in betrügerischer Absicht oder mit der Absicht zu schaden begangen werden ».
B.4. Die vorerwähnten Bestimmungen führen einen Behandlungsunterschied zwischen Ausländern herbei, je nachdem, ob sie wegen eines Verstoßes gegen die Sozialgesetzgebung oder wegen eines Verstoßes gegen die Steuergesetzgebung verurteilt worden sind. Verstöße gegen die Sozialgesetzgebung stellen immer « schwerwiegende persönliche Fakten » dar. Bei Verstößen gegen die Steuergesetzgebung ist dies nur dann der Fall, wenn sie in betrügerischer Absicht oder mit der Absicht zu schaden begangen wurden.
Der vorlegende Richter möchte vom Gerichtshof vernehmen, ob der Behandlungsunterschied zwischen Ausländern je nach der Art des Verstoßes, der der Verurteilung zugrunde liege, mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung vereinbar sei (erste Vorabentscheidungsfrage), und ob gegen diese Verfassungsartikel verstoßen werde, wenn die fraglichen Bestimmungen dergestalt interpretiert würden, dass bei einer Verurteilung aufgrund eines Verstoßes gegen die Sozialgesetzgebung dem Richter kein Ermessensspielraum gelassen werde, ob der der strafrechtlichen Verurteilung zugrunde liegende Sachverhalt als schwerwiegender persönlicher Fakt zu werten sei oder nicht (zweite Vorabentscheidungsfrage).
B.5. Gemäß Artikel 8 der Verfassung obliegt es dem Gesetzgeber, die Bedingungen festzulegen, unter denen die belgische Staatsangehörigkeit erworben werden kann. Er verfügt diesbezüglich über eine breite Ermessensbefugnis. Wenn die Entscheidungen des Gesetzgebers zu einem Behandlungsunterschied führen, muss der Gerichtshof jedoch prüfen, ob dieser Unterschied auf einer vernünftigen Rechtfertigung beruht.
B.6. Die Definition der Begriffe des « Sozialbetrugs » und der « Steuerhinterziehung » wurden infolge des Gutachtens der Gesetzgebungsabteilung des Staatsrates durch Abänderungsantrag den Begriffsbestimmungen in Artikel 1 § 2 des Gesetzbuches über die belgische Staatsangehörigkeit hinzugefügt. Der Abänderungsantrag wurde wie folgt erläutert:
« 8. Sozialbetrug
Der Staatsrat verlangt eine Definition von ' Sozialbetrug '. Es kann auf Artikel 309 des Programmgesetzes vom 27. Dezember 2006 verwiesen werden, durch den in Titel XII der Dienst für Sozialinformation und -ermittlung gegründet wird und in dem Sozialbetrug als ' jeder Verstoß gegen soziale Rechtsvorschriften ' definiert wird.
9. Steuerhinterziehung
Obwohl der Staatsrat dies nicht ausdrücklich verlangt, ist es in Anbetracht der Definition des Betriffs des ' Sozialbetrugs ' wohl auch angebracht, den Begriff der ' Steuerhinterziehung ' zu definieren.
Diesbezüglich wird jene Definition der Steuerhinterziehung gehandhabt, die im Steuerrecht üblich ist und unter anderem in Artikel 449 des Einkommensteuergesetzbuches, Artikel 73 des Mehrwertsteuergesetzbuches, Artikel 133 des Erbschaftssteuergesetzbuches, usw. enthalten ist. Damit von Steuerhinterziehung die Rede sein kann, sind also sowohl das materielle Element (Verstoß gegen die Steuergesetzbücher oder die zu deren Ausführung ergangenen Erlasse) als auch das Absichtselement (betrügerische Absicht oder Schädigungsabsicht) erforderlich » (Parl. Dok., Kammer, 2011-2012, DOC 53-0476/013, S. 21).
B.7. Der Gesetzgeber beabsichtigte also, die Begriffsbestimmung des Sozialbetrugs und der Steuerhinterziehung im Gesetzbuch über die belgische Staatsangehörigkeit auf die gängige Bedeutung derselben Begriffe in der Sozial- und Steuergesetzgebung abzustimmen.
Artikel 1 § 1 des Sozialstrafgesetzbuches, der Artikel 309 des Programmgesetzes (I) vom 27. Dezember 2006 ersetzt hat, bestimmt:
« Im Sinne des vorliegenden Titels versteht man unter Sozialbetrug und illegaler Arbeit: jeden Verstoß gegen soziale Rechtsvorschriften, die in die Zuständigkeit der Föderalbehörde fallen ».
Artikel 449 Absatz 1 des Einkommensteuergesetzbuches und Artikel 73 des Mehrwertsteuergesetzbuches bestimmen:
« Mit einer Gefängnisstrafe von acht Tagen bis zu zwei Jahren und mit einer Geldbuße von 250 bis zu 500.000 EUR oder mit nur einer dieser Strafen wird belegt, wer in betrügerischer Absicht oder mit der Absicht zu schaden gegen die Bestimmungen des vorliegenden Gesetzbuches oder seiner Ausführungserlasse verstößt ».
B.8. Die Verdeutlichung der Begriffe des « Sozialbetrugs » und der « Steuerhinterziehung » im Gesetzbuch über die belgische Staatsangehörigkeit zielt darauf ab, näher zu bestimmen, worin die « schwerwiegenden persönlichen Fakten » insbesondere bestehen können. Das Vorhandensein solcher schwerwiegenden persönlichen Fakten kann zu einer negativen Stellungnahme des Prokurators des Königs führen. Die Verdeutlichung dessen, was « schwerwiegende persönliche Fakten » sind, bietet dem Prokurator des Königs einen genaueren Anhaltspunkt bei der Ausübung seiner Befugnis zur Abgabe von Stellungnahmen, um « allen Bewerbern um die belgische Staatsangehörigkeit eine Gleichbehandlung gewährleisten zu können » (Parl. Dok., Kammer, 2011-2012, DOC 53-0476/013, S. 19).
B.9. Im Lichte der verfolgten Zielsetzung und im Hinblick auf eine kohärente Regelung entbehrt es nicht einer vernünftigen Rechtfertigung, dass der Gesetzgeber, bei der Definition der Begriffe des « Sozialbetrugs » und der « Steuerhinterziehung » im Gesetzbuch über die belgische Staatsangehörigkeit, auf die Definition verweist, die für dieselben Begriffe in der Sozialgesetzgebung beziehungsweise in der Steuergesetzgebung verwendet wird.
Die erste Vorabentscheidungsfrage ist verneinend zu beantworten.
B.10. Im Lichte der angestrebten Rechtssicherheit und Gleichbehandlung der Ausländer, die eine Staatsangehörigkeitserklärung abgeben, entbehrt es genauso wenig einer vernünftigen Rechtfertigung, dass dem Richter, der die Begründetheit einer negativen Stellungnahme des Prokurators des Königs zu beurteilen hat, aufgrund des fraglichen Artikels 1 § 2 Absatz 1 Nr. 4 Buchstabe d), so wie dieser vom vorlegenden Richter in der zweiten Vorabentscheidungsfrage ausgelegt wird, nicht die Freiheit gelassen wird, zu beurteilen, ob die der strafrechtlichen Verurteilung zugrunde liegenden Fakten als « schwerwiegende persönliche Fakten » anzusehen sind.
Die zweite Vorabentscheidungsfrage ist ebenfalls verneinend zu beantworten.
Aus diesen Gründen:
Der Gerichtshof
erkennt für Recht:
Artikel 1 § 2 Absatz 1 Nr. 4 Buchstabe d) in Verbindung mit den Artikeln 1 § 2 Absatz 1 Nr. 8 und Nr. 9 und 15 § 3 Absatz 1 des Gesetzbuches über die belgische Staatsangehörigkeit verstößt nicht gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung.
Erlassen in niederländischer, französischer und deutscher Sprache, gemäß Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, am 2. Juni 2016.
Der Kanzler,
F. Meersschaut
Der Präsident,
E. De Groot