Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 8 Mai 2014 (België). RG 76/2014
- Sectie :
- Rechtspraak
- Bron :
- Justel D-20140508-5
- Rolnummer :
- 76/2014
Samenvatting :
Der Gerichtshof erkennt für Recht: Artikel 144 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung verstößt gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, an sich oder in Verbindung mit deren Artikeln 160 und 161, mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung und mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wenn er dahin ausgelegt wird, dass die erstinstanzliche Kammer einen neuen Beschluss zur Sache fassen kann, nachdem sie festgestellt hat, dass der Beschluss des leitenden Beamten wegen Nichteinhaltung der zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Fristen nichtig ist.
Arrest :
Der Verfassungsgerichtshof,
zusammengesetzt aus den Präsidenten A. Alen und J. Spreutels, und den Richtern E. De Groot, L. Lavrysen, J.-P. Snappe, J.-P. Moerman, E. Derycke, T. Merckx-Van Goey, P. Nihoul, F. Daoût, T. Giet und R. Leysen, unter Assistenz des Kanzlers P.-Y. Dutilleux, unter dem Vorsitz des Präsidenten A. Alen,
erlässt nach Beratung folgenden Entscheid:
I. Gegenstand der Vorabentscheidungsfrage und Verfahren
In ihrem Beschluss vom 26. März 2013 in Sachen Herman Vercruysse gegen den Dienst für medizinische Evaluation und Kontrolle des LIKIV, dessen Ausfertigung am 7. Mai 2013 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die beim Dienst für medizinische Evaluation und Kontrolle des LIKIV eingerichtete Widerspruchskammer folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt:
« Verstößt Artikel 144 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung gegen die Artikel 10, 11 und 16 der Verfassung, an sich und in Verbindung mit den Artikeln 160 und 161 der Verfassung, dem Grundsatz der Gewaltentrennung und Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, dahingehend ausgelegt, dass die erstinstanzliche Kammer, eingerichtet als administratives Rechtsprechungsorgan kraft Artikel 144 § 1 des koordinierten Gesetzes und befasst aufgrund von Artikel 144 § 2 Nr. 2 des koordinierten Gesetzes, nachdem sie festgestellt hat, dass der Beschluss des leitenden Beamten nichtig ist wegen Verstoßes gegen Artikel 142 § 3 des koordinierten Gesetzes (Ausschlussfristen), auch selbst von Amts wegen über die Verstöße gegen die Bestimmungen von Artikel 73bis des koordinierten Gesetzes befinden kann, eine Zuständigkeit, die die erstinstanzliche Kammer übrigens nicht hat aufgrund von Artikel 144 § 2 Nr. 1 des koordinierten Gesetzes, wenn der Verstoß in die Zuständigkeit des Leitenden Beamten fällt im Sinne von Artikel 143 § 1 dieses koordinierten Gesetzes? ».
(...)
III. Rechtliche Würdigung
(...)
In Bezug auf die fragliche Bestimmung
B.1.1. Artikel 144 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung, wieder aufgenommen durch Artikel 2 des Gesetzes vom 21. Dezember 2006 zur Schaffung von erstinstanzlichen Kammern und Widerspruchskammern beim Dienst für medizinische Evaluation und Kontrolle des LIKIV, bestimmte in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:
« § 1. Beim Dienst für medizinische Evaluation und Kontrolle werden erstinstanzliche Kammern und Widerspruchskammern, in Artikel 161 der Verfassung erwähnte Verwaltungsgerichtsbarkeiten, eingerichtet.
§ 2. Die erstinstanzlichen Kammern erkennen in folgenden Sachen:
1. Verstöße gegen die Bestimmungen von Artikel 73bis, vorbehaltlich der Verstöße, die zum Zuständigkeitsbereich des Leitenden Beamten, so wie in Artikel 143 erwähnt, gehören,
2. Widersprüche gegen die Beschlüsse des Leitenden Beamten oder des von ihm bestimmten Beamten, die auf der Grundlage von Artikel 143 § 3 ergehen,
3. Widersprüche des Leitenden Beamten gegen die Beschlüsse des Ausschusses, durch die die in Artikel 146bis erwähnten Verfahren entweder eingestellt oder durch eine Verwarnung beendet werden.
§ 3. Die Widerspruchskammern erkennen mit voller Rechtsprechungsbefugnis in folgenden Sachen:
1. Widersprüche gegen Beschlüsse der erstinstanzlichen Kammern,
2. Widersprüche gegen die in Artikel 155 § 2 erwähnten Beschlüsse des Ausschusses ».
B.1.2. Artikel 143 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994, wieder aufgenommen durch Artikel 100 des Gesetzes vom 13. Dezember 2006 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen im Bereich Gesundheit und abgeändert durch Artikel 257 des Gesetzes vom 27. Dezember 2006 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen (I) sowie durch Artikel 39 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen im Bereich Gesundheitspflege, bestimmte in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung:
« § 1. Der leitende Beamte des Dienstes für medizinische Evaluation und Kontrolle oder der von ihm bestimmte Beamte erkennen in folgenden Streitsachen:
1. bei in Artikel 73bis Nr. 1, 2 und 3 des Gesetzes erwähnten Verstößen:
a) wenn dem Pflegeerbringer binnen fünf Jahren vor der Feststellung des Verstoßes keine Maßnahme durch die beschränkten Kammern oder ihre Berufungskommissionen, durch die Kontrollkommission oder ihre Berufungskommission, durch den Ausschuss oder die in Artikel 155 vorgesehenen Widerspruchskammern, durch den leitenden Beamten, die erstinstanzlichen Kammern und die Widerspruchskammern, die in Artikel 144 vorgesehen sind, auferlegt worden ist,
b) wenn keine Indizien auf betrügerische Handlungen schließen lassen,
c) wenn der Wert der beanstandeten Leistungen unter 25.000 EUR beträgt.
Diese Bedingungen sind kumulativ.
2. bei in Artikel 73bis Nr. 7 und 8 erwähnten Verstößen.
Die Aufteilung der Sachen zwischen dem leitenden Beamten dieses Dienstes und den in Artikel 144 erwähnten erstinstanzlichen Kammern wird zum ersten Mal drei Jahre nach Inkrafttreten der vorliegenden Bestimmung Gegenstand einer Evaluation sein.
§ 2. Der leitende Beamte oder der von ihm bestimmte Beamte setzt den Zuwiderhandelnden von den festgestellten Verstößen, die ihm zur Last gelegt werden, per Einschreibebrief in Kenntnis. Gegebenenfalls erfolgt dieselbe Mitteilung an die in Artikel 164 Absatz 2 erwähnte natürliche oder juristische Person.
Die vorerwähnten Mitteilungen erfolgen per Einschreibebrief und es wird davon ausgegangen, dass sie am zweiten Werktag nach dem Datum der Versendung empfangen worden sind.
Er fordert den Zuwiderhandelnden oder gegebenenfalls die in Artikel 164 Absatz 2 erwähnte natürliche oder juristische Person auf, ihm binnen zwei Monaten seine Verteidigungsmittel per Einschreibebrief zu übermitteln.
§ 3. Bei einem Verstoß gegen die Bestimmungen von Artikel 73bis Nr. 1, 2, 3, 7 und 8 verhängt der leitende Beamte oder der von ihm bestimmte Beamte binnen drei Monaten nach Empfang der Verteidigungsmittel oder, in deren Ermangelung, binnen drei Monaten nach Ablauf der in Artikel 143 § 2 Absatz 2 erwähnten Frist die in Artikel 142 aufgezählten Maßnahmen.
[...] ».
B.1.3. Artikel 73bis des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994, auf den der vorerwähnte Artikel 143 desselben Gesetzes Bezug nimmt, bestimmt die Verstöße im Zusammenhang mit der Realität und Konformität der Gesundheitsleistungen.
Artikel 142 § desselben Gesetzes bestimmt die Maßnahmen, die « unbeschadet eventueller strafrechtlicher und/oder disziplinarrechtlicher Strafmaßnahmen » auf Pflegeerbringer und ihnen gleichgestellte Personen, die die Bestimmungen des vorerwähnten Artikels 73bis nicht einhalten, angewendet werden. Artikel 142 §§ 2 und 3 desselben Gesetzes, wieder aufgenommen durch Artikel 99 des vorerwähnten Gesetzes vom 13. Dezember 2006, bestimmte in der im Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung diesbezüglich:
« § 2. Die materiellen Bestandteile des in Artikel 73bis erwähnten Verstoßes werden von den in Artikel 146 erwähnten vereidigten Beamten in einem Protokoll festgestellt.
Zur Vermeidung des Verfalls müssen diese Protokolle binnen zwei Jahren ab dem Datum, an dem die Versicherungsträger die Unterlagen mit Bezug auf die strafbaren Taten erhalten haben, erstellt werden.
§ 3. Zur Vermeidung des Verfalls müssen:
1. die in Artikel 73bis Nr. 8 erwähnten Streitsachen vom leitenden Beamten oder von dem von ihm bestimmten Beamten binnen zwei Jahren nach dem in Artikel 142 § 1 Nr. 4 und 5 bis 6 erwähnten definitiven Beschluss entschieden werden,
2. die in Artikel 73bis Nr. 2 und 7 erwähnten Streitsachen, die in den Zuständigkeitsbereich des leitenden Beamten oder des von ihm bestimmten Beamten fallen, binnen zwei Jahren nach dem Datum des Protokolls von ihnen entschieden werden,
3. die in Artikel 73bis erwähnten Streitsachen, die entsprechend Artikel 144 § 2 Nr. 2 in den Zuständigkeitsbereich der erstinstanzlichen Kammern fallen, müssen binnen drei Jahren nach dem Datum des Protokolls bei diesen Kammern anhängig gemacht werden.
Die vorerwähnten Fristen werden während jeglichen Zivil-, Straf- oder Disziplinarverfahrens, bei dem der Pflegeerbringer Partei ist, ausgesetzt, wenn der Ausgang dieses Verfahrens für die Prüfung der Sache durch den leitenden Beamten oder die erstinstanzliche Kammer ausschlaggebend sein kann.
Urteile bezüglich der in Artikel 73bis erwähnten Streitsachen mit den Pflegeerbringern fallen in die ausschließliche Zuständigkeit der in Artikel 143 und 144 erwähnten Organe ».
In Bezug auf die Zulässigkeit
B.2.1. Der Ministerrat und das Landesinstitut für Kranken- und Invalidenversicherung (nachstehend: LIKIV) stellen die Zulässigkeit der Vorabentscheidungsfrage mit der Begründung in Abrede, dass weder in der Vorabentscheidungsfrage, noch in der Vorlageentscheidung angegeben sei, welche Kategorien von Personen miteinander zu vergleichen seien.
B.2.2. Wenn der Gerichtshof gefragt wird, ob eine gesetzeskräftige Bestimmung mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung in Verbindung mit einer verfassungsrechtlichen oder einer vertragsrechtlichen Bestimmung, in der ein Grundrecht gewährleistet wird, vereinbar sei, muss die Kategorie der Personen, für die gegen dieses Grundrecht verstoßen würde, mit der Kategorie von Personen verglichen werden, denen dieses Grundrecht gewährleistet wird.
Im vorliegenden Fall wird der Gerichtshof gefragt, ob die betreffende Bestimmung vereinbar sei mit den Artikeln 10, 11 und 16 der Verfassung in Verbindung mit deren Artikeln 160 und 161, mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung und mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Kategorie von Personen, gegen deren Grundrecht verstoßen worden wäre, ist folglich mit der Kategorie von Personen zu vergleichen, denen dieses Grundrecht gewährleistet wird.
B.2.3. Die Einrede wird abgewiesen.
B.3.1. Ferner sei nach Auffassung des Ministerrates und des LIKIV die Vorabentscheidungsfrage der Lösung der Streitsache im Ausgangsverfahren nicht dienlich, da weder Artikel 73bis, noch Artikel 142 § 3 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 auf diese Streitsache anwendbar seien.
B.3.2. In der Regel obliegt es dem Rechtsprechungsorgan, das den Gerichtshof befragt, zu beurteilen, ob die Antwort auf die Vorabentscheidungsfrage zur Lösung der ihm unterbreiteten Streitsache sachdienlich ist.
Nur wenn dies eindeutig nicht der Fall ist, kann der Gerichtshof beschließen, dass die Frage keiner Antwort bedarf.
B.3.3. Aus der Vorabentscheidungsfrage und der Vorlageentscheidung geht hervor, dass das vorlegende Rechtsprechungsorgan den Gerichtshof im Wesentlichen zu der Befugnis der erstinstanzlichen Kammer des Dienstes für medizinische Evaluation und Kontrolle des LIKIV nach der Feststellung, dass der Beschluss des leitenden Beamten dieses Dienstes wegen der Nichteinhaltung einer zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Frist nichtig sei, die Sache an sich zu ziehen und die dem Pflegeerbringer vorgeworfenen Verstöße zur Sache zu prüfen, befragt.
Da dieser Beschluss der erstinstanzlichen Kammer vor dem vorlegenden Rechtsprechungsorgan angefochten wird, ist die Antwort auf die dem Gerichtshof gestellte Frage sachdienlich für die Lösung der Streitsache im Hauptverfahren.
B.3.4. Die Einrede wird abgewiesen.
In Bezug auf den Antrag auf Umformulierung der Vorabentscheidungsfrage
B.4.1. Die klagende Partei vor dem vorlegenden Rechtsprechungsorgan beantragt, die Artikel 144 bis 146 der Verfassung in die Prüfung der Vorabentscheidungsfrage einzubeziehen, da diese Bestimmungen untrennbar mit den in der Vorabentscheidungsfrage angeführten Artikeln 160 und 161 der Verfassung verbunden seien.
B.4.2. Das vorlegende Rechtsprechungsorgan befragt den Gerichtshof zur Vereinbarkeit der betreffenden Bestimmung mit den Artikeln 10, 11 und 16 der Verfassung, gegebenenfalls in Verbindung mit - unter anderem - den Artikeln 160 und 161 der Verfassung.
B.4.3. Die Parteien dürfen nicht die Tragweite der durch den vorlegenden Richter gestellten Vorabentscheidungsfrage ändern oder ändern lassen.
Das Sondergesetz vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof bietet einer Partei ebenfalls nicht die Möglichkeit, die Verfassungsbestimmungen zu präzisieren, über die der vorlegende Richter eine Frage hätte stellen müssen. Es obliegt nämlich nicht einer Partei vor dem vorlegenden Rechtsprechungsorgan, den Gegenstand und den Umfang der Vorabentscheidungsfrage festzulegen. Es obliegt dem vorlegenden Richter zu beurteilen, welche Vorabentscheidungsfragen er dem Gerichtshof stellen muss, und dabei den Umfang der Anhängigmachung zu bestimmen.
B.4.4. Das Vorstehende hindert den Gerichtshof jedoch nicht daran, bei seiner Prüfung der Vereinbarkeit der fraglichen Bestimmung mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung in Verbindung mit deren Artikeln 160 und 161 die Artikel 144 bis 146 der Verfassung zu berücksichtigen, insofern diese Verfassungsbestimmungen sich auf die Befugnisse der administrativen Rechtsprechungsorgane beziehen.
B.5.1. Die klagende Partei vor dem vorlegenden Rechtsprechungsorgan beantragt ebenfalls, in der Vorabentscheidungsfrage die Bezugnahme auf Artikel 142 § 3 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 durch eine Verweisung auf Artikel 142 §§ 2 und 3 desselben Gesetzes zu ersetzen.
B.5.2. Es ist den Parteien nicht erlaubt, die Vorabentscheidungsfrage umzuformulieren. Wie in B.4.3 dargelegt wurde, obliegt es nämlich dem vorlegenden Richter zu beurteilen, welche Vorabentscheidungsfragen er dem Gerichtshof zu stellen hat, und dabei den Umfang der Anhängigmachung zu bestimmen.
Zur Hauptsache
B.6.1. Das vorlegende Rechtsprechungsorgan fragt, ob die betreffende Bestimmung vereinbar sei mit den Artikeln 10, 11 und 16 der Verfassung, gegebenenfalls in Verbindung mit deren Artikeln 160 und 161, mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung und mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, ausgelegt in dem Sinne, dass die erstinstanzliche Kammer des Dienstes für medizinische Evaluation und Kontrolle des LIKIV, die im Rahmen einer Beschwerde gegen den Beschluss des leitenden Beamten aufgrund von Artikel 144 § 2 Nr. 2 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 die Nichtigkeit dieses Beschlusses wegen Missachtung der in Artikel 142 § 3 zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Frist feststelle, die Sache an sich ziehen und die dem Pflegeerbringer vorgeworfenen Verstöße zur Sache prüfen könne.
B.6.2. Aus der Vorlageentscheidung und aus den Schriftstücken der Akte im Ausgangserfahren geht hervor, dass die erstinstanzliche Kammer der Auffassung war, dass der Beschluss des leitenden Beamten nichtig war, weil er nicht mit einem Datum versehen war, und diese Nichtigkeit nicht aufgehoben werden konnte durch das Anführen äußerer Elemente, so dass nicht mehr habe festgestellt werden können, dass sein Beschluss innerhalb einer zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Frist gefasst worden sei. Der Gerichtshof begrenzt seine Prüfung auf diesen Fall.
B.7.1. Die Einsetzung der erstinstanzlichen Kammern und der Widerspruchskammern bei dem Dienst für medizinische Evaluation und Kontrolle des LIKIV durch das vorerwähnte Gesetz vom 21. Dezember 2006 ist Bestandteil einer Evaluation des Verfahrens vor dem Ausschuss des Dienstes für medizinische Evaluation und Kontrolle des LIKIV, eingeführt durch das Programmgesetz (II) vom 24. Dezember 2002. Aus den Vorarbeiten geht hervor, dass diesem Verfahren eine Reihe von Mängeln vorgeworfen wurden:
« Die Vertreter der verschiedenen Berufskategorien, die im Ausschuss vertreten sind, stellen fest, dass das jetzige Verfahren zur Prüfung von Akten die Wahrung der Rechte der Verteidigung der Pflegeerbringer nur objektiv gewährleistet. Sie haben in der Tat das Recht, wie bereits oben erwähnt wurde, ihre schriftlichen Verteidigungsmittel als Antwort auf die durch den Dienst zu ihren Lasten angeführten Vorwürfe zu übermitteln. Sodann haben sie die Möglichkeit, wenn sie es wünschen, durch zwei Mitglieder des Ausschusses, die ' Auditoren ' genannt werden, angehört zu werden, um ihre Verteidigung mündlich näher zu erläutern.
Diese Anhörung verläuft in Abwesenheit der Beamten-Inspektoren des Dienstes, und während der späteren Diskussionen vor dem Ausschuss nimmt der Dienst nicht an der Entscheidungsfindung teil.
Diese objektiven Garantieren reichen jedoch nicht aus für die Vertreter der Pflegeerbringer. Die Pflegeerbringer müssen auch, subjektiv betrachtet, das Gefühl haben, dass ihre Sache in aller Unabhängigkeit und Unparteilichkeit behandelt wird.
Selbst wenn die Mitglieder des Ausschusses objektiv betrachtet vollständig unabhängig von den Prüfern des Dienstes sind, kann dennoch der Eindruck entstehen, dass sie ein Bestandteil davon sind.
Die Vertreter der verschiedenen Berufskategorien möchten aus diesen Gründen sehr deutlich unterscheiden zwischen Untersuchungs- und Beurteilungsphase, und sie wünschen, dass die an diesen beiden Phasen beteiligten Personen absolut unabhängig voneinander sind.
[...]
Der zweite Aspekt der Kritik an dem bestehenden Verfahren ist, dass die Pflegeerbringer nicht das Recht haben, durch den Ausschuss angehört zu werden, der nur indirekt durch seine Auditoren über die Angelegenheit informiert wird » (Parl. Dok., Kammer, 2005-2006, DOC 51-2594/001, SS. 43-44).
B.7.2. Um diesen Beschwerden entgegenzukommen, werden die erstinstanzliche Kammer und die Widerspruchskammer als administrative Rechtsprechungsorgane eingesetzt und wird ein Verfahren vorgesehen, das die Rechte der Verteidigung gewährleisten soll. In den Vorarbeiten wurde diesbezüglich dargelegt:
« Durch den Entwurf werden zwei administrative Rechtsprechungsorgane eingesetzt: die erstinstanzliche Kammer, die aus einem Magistrat-Vorsitzenden und vier Mitgliedern zusammengesetzt ist; zwei Mitglieder vertreten die Versicherungsträger und zwei andere Mitglieder die Berufskategorie der Pflegeerbringer. Sie sind alle stimmberechtigt (siehe Artikel 14 des Entwurfs).
In der Berufungsinstanz ist die Widerspruchskammer ebenfalls aus einem Magistrat-Vorsitzenden und vier Mitgliedern zusammengesetzt; zwei Mitglieder vertreten die Versicherungsträger und die zwei anderen die Berufskategorie der betreffenden Pflegeerbringer. Nur der Magistrat ist stimmberechtigt (siehe Artikel 14 des Entwurfs).
[...]
Das Mandat des Vorsitzenden und der vorerwähnten Mitglieder ist unvereinbar mit allen anderen Mandaten, die innerhalb des Dienstes für medizinische Evaluation und Kontrolle ausgeübt werden. Die Unabhängigkeit und die Unparteilichkeit dieser Rechtsprechungsorgane sind somit vollständig gewährleistet (siehe Artikel 95).
Hinsichtlich der Rechte der Verteidigung erlaubt das vorgeschlagene System es dem Pflegeerbringer künftig, in einer öffentlichen Sitzung zu erscheinen und dabei durch einen Beistand seiner Wahl unterstützt oder vertreten zu werden (siehe Artikel 95).
Selbstverständlich werden die Beschlüsse dieser Rechtsprechungsorgane mit Gründen versehen (Artikel 102). Sie werden in öffentlicher Sitzung verkündet. Außerdem können diese Rechtsprechungsorgane Sachverständige zu Rate ziehen in Bezug auf Auslegungsprobleme hinsichtlich der Vorschriften. Die Rechte der Verteidigung werden nunmehr also sowohl objektiv als auch subjektiv gewährleistet » (ebenda, SS. 44-45).
B.8.1. Aufgrund von Artikel 142 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 können Pflegeerbringer im Falle unrechtmäßig aufgebürdeter Leistungen neben strafrechtlichen und/oder disziplinarrechtlichen Strafmaßnahmen zur Rückzahlung des Wertes dieser Leistungen und/oder zur Zahlung einer administrativen Geldbuße verpflichtet werden.
B.8.2. Die Artikel 143 § 1 und 144 § 2 Nr. 1 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 enthalten bezüglich der Untersuchung der Verstöße, die den Pflegeerbringer zur Last gelegt werden können, eine Zuständigkeitsverteilung zwischen dem leitenden Beamten des Dienstes für medizinische Evaluation und Kontrolle und der erstinstanzlichen Kammer, je nach der Beschaffenheit des Verstoßes, der einem Pflegeerbringer zur Last gelegt wird.
B.8.3. Aufgrund von Artikel 144 § 2 Nrn. 1 und 2 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 besitzt die erstinstanzliche Kammer eine doppelte Zuständigkeit; sie befindet einerseits über die Verstöße, die nicht gemäß Artikel 143 § 1 desselben Gesetzes zum Zuständigkeitsbereich des leitenden Beamten gehören, und andererseits über die Widersprüche gegen die Beschlüsse des leitenden Beamten. Die vorliegende Rechtssache bezieht sich nur auf die letztgenannte Zuständigkeit.
B.8.4. Gegen die Beschlüsse der erstinstanzlichen Kammer, sowohl diejenigen, die aufgrund von Artikel 144 § 2 Nr. 1 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 gefasst wurden, als auch diejenigen, die aufgrund von Artikel 144 § 2 Nr. 2 desselben Gesetzes gefasst wurden, ist eine Berufung bei der Widerspruchskammer möglich.
B.9. Im Falle unrechtmäßig aufgebürdeter Leistungen können Pflegeerbringer zur Rückzahlung des Wertes dieser Leistungen und/oder zur Zahlung einer administrativen Geldbuße verpflichtet werden. Die administrativen Geldbußen, die der leitende Beamte auferlegen kann, sind strafrechtlicher Art im Sinne von Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention und fallen folglich in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung. Daraus ergibt sich, dass einem Pflegeerbringer, dem der leitende Beamte eine solche Geldbuße auferlegt, das Recht auf Zugang zu einem Richter mit voller Rechtsprechungsbefugnis gewährleistet werden muss.
B.10.1. Aus dem Werdegang der Rechtsvorschriften, durch die die in B.7 erwähnten administrativen Rechtsprechungsorgane eingesetzt wurden, geht hervor, dass der Gesetzgeber gewünscht hat, dass sie bei der Beurteilung der ihnen vorgelegten Streitfälle über eine volle Rechtsprechungsbefugnis verfügen. Dies wurde bestätigt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 29. März 2012 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen (II), durch den die fragliche Bestimmung wie folgt abgeändert wurde:
« Artikel 144 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung, wieder aufgenommen durch das Gesetz vom 21. Dezember 2006, wird wie folgt abgeändert:
1. In § 2 Absatz 1 wird das Wort ' erkennen ' durch die Wörter ' erkennen mit voller Rechtsprechungsbefugnis ' ersetzt.
2. Ein Paragraph 4 mit folgendem Wortlaut wird eingefügt:
' § 4. Teil IV Buch II Titel IV des Gerichtsgesetzbuches ist nicht anwendbar auf die erstinstanzlichen Kammern und die Widerspruchskammern. ' ».
B.10.2. In der Begründung zu dem Gesetzentwurf, der zu dieser Bestimmung geführt hat, wurde Folgendes präzisiert:
« 1. Es handelt sich um eine Verdeutlichung im Text, dass die erstinstanzlichen Kammern, ebenso wie die Widerspruchskammern, über eine volle Rechtsprechungsbefugnis verfügen, sowohl für die Widersprüche gegen die Beschlüsse des leitenden Beamten, als auch für die Sachen, die direkt bei ihnen anhängig gemacht werden » (Parl. Dok., Kammer, 2011-2012, DOC 53-2098/001, S. 61).
Aus den Vorarbeiten ergibt sich folglich, dass diese Gesetzesänderung in Bezug auf die erstinstanzliche Kammer nur bezweckte, die bestehende Situation zu verdeutlichen.
B.10.3. Die Tragweite der Prüfung mit voller Rechtsprechungsbefugnis wird durch den Gesetzgeber nicht im Einzelnen festgelegt, doch aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die erstinstanzliche Kammer und die Widerspruchskammer die ihnen durch Artikel 144 des koordinierten Gesetzes vom 14. Juli 1994 erteilte Zuständigkeit so auslegen, dass sie nicht nur über eine Nichtigerklärungsbefugnis verfügen, sondern dass sie gegebenenfalls auch eine neuen Beschluss fassen können.
B.11.1. Der vorlegende Richter befragt den Gerichtshof jedoch nicht zu dieser Reformbefugnis als solche, sondern fragt, ob dieser Artikel 144 nicht verfassungswidrig sei, wenn er so ausgelegt werde, dass die erstinstanzliche Kammer aufgrund ihrer Zuständigkeit mit voller Rechtsprechungsbefugnis einen neuen Beschluss fassen könne, nachdem sie festgestellt habe, dass der Beschluss des leitenden Beamten nichtig sei, weil eine wesentliche Formvorschrift nicht eingehalten worden sei, nämlich die Datierung des Beschlusses, und dieser Nichtigkeit nicht mehr durch äußere Elemente abgeholfen werden könne. Somit habe nicht bewiesen werden können, dass der leitende Beamte die in Artikel 142 § 3 zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebene Frist eingehalten habe.
B.11.2. In diesem Zusammenhang erklärt der vorlegende Richter:
« Zu Recht wurde nämlich im angefochtenen Beschluss dargelegt, dass das Datum eines durch den leitenden Beamten gefassten Beschlusses von wesentlicher Bedeutung ist, da das Datum notwendig ist, um Rechtsfolgen bestimmter Fakten zu prüfen (Verjährungen, Feststellungen u. dgl.) ».
B.12. Die richterliche Prüfung mit voller Rechtsprechungsbefugnis beinhaltet, dass die erstinstanzliche Kammer untersuchen kann, ob der Beschluss des leitenden Beamten rechtlich und faktisch gerechtfertigt ist und ob die Gesetzesbestimmungen und allgemeinen Grundsätze, die er beachten muss, darunter der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, eingehalten wurden.
B.13. Die Befugnis des Richters wird jedoch auch durch die Befugnis der Verwaltung begrenzt (Kass., 16. Februar 2007, Arr. Cass., 2007, Nrn. 99, 100 und 102). Ein Richter kann keine neue Entscheidung an Stelle derjenigen der Verwaltung treffen, wenn der letztgenannte Beschluss wegen Nichteinhaltung von zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Fristen nichtig ist. Durch die Überschreitung dieser Fristen verliert die Verwaltung nämlich endgültig die Möglichkeit, einen bestimmten Verstoß zu bestrafen, und ist der zu spät gefasste Beschluss nichtig. Wenn in einem solchen Fall der Richter, nachdem er die Nichtigkeit wegen Fristüberschreitung festgestellt hat, dennoch beschließt, die Sache an sich zu ziehen und eine neue Entscheidung zur Sache trifft, hat dies zur Folge, dass durch die Anwendung eines Rechtsmittels die Anwendung der Sanktion, die eine Folge der Überschreitung einer zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Frist durch die Verwaltung ist, aufgehoben wird, was den eigentlichen Sinn der Auschlussfristen, die im Interesse der Rechtsunterworfenen vorgeschrieben werden, beeinträchtigt. Eine solche Entscheidung geht über die Grenzen der Prüfung mit voller Rechtsprechungsbefugnis hinaus, so dass der Richter sich in diesem Fall auf eine Nichtigerklärung beschränken muss.
B.14. Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass Artikel 144 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung nicht vereinbar ist mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung, gegebenenfalls in Verbindung mit deren Artikeln 160 und 161, mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung und mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wenn er dahin ausgelegt wird, dass die erstinstanzliche Kammer einen neuen Beschluss zur Sache fassen kann, nachdem sie festgestellt hat, dass der Beschluss des leitenden Beamten wegen Nichteinhaltung der zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Fristen nichtig ist.
B.15. Die Prüfung anhand des ebenfalls in der Vorabentscheidungsfrage angeführten Artikels 16 der Verfassung steht im vorliegenden Fall nicht zur Debatte. Insofern die fragliche Bestimmung die Zuständigkeit der erstinstanzlichen Kammer regelt, betrifft sie nicht den Schutz des Eigentumsrechtes, der durch die vorerwähnte Verfassungsbestimmung gewährleistet wird.
B.16. Die Vorabentscheidungsfrage ist bejahend zu beantworten.
Aus diesen Gründen:
Der Gerichtshof
erkennt für Recht:
Artikel 144 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung verstößt gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, an sich oder in Verbindung mit deren Artikeln 160 und 161, mit dem Grundsatz der Gewaltentrennung und mit Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention, wenn er dahin ausgelegt wird, dass die erstinstanzliche Kammer einen neuen Beschluss zur Sache fassen kann, nachdem sie festgestellt hat, dass der Beschluss des leitenden Beamten wegen Nichteinhaltung der zur Vermeidung des Verfalls vorgeschriebenen Fristen nichtig ist.
Erlassen in niederländischer und französischer Sprache, gemäß Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, am 8. Mai 2014.
Der Kanzler,
(gez.) P.-Y. Dutilleux
Der Präsident,
(gez.) A. Alen