Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 5 März 2015 (België). RG 27/2015

Date :
05-03-2015
Language :
German French Dutch
Size :
4 pages
Section :
Case law
Source :
Justel D-20150305-4
Role number :
27/2015

Summary :

Der Gerichtshof erkennt für Recht: - Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971 über die Arbeitsunfälle verstößt nicht gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung. - Die zweite Vorabentscheidungsfrage bedarf keiner Antwort.

Arrêt :

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Der Verfassungsgerichtshof,

zusammengesetzt aus den Präsidenten J. Spreutels und A. Alen, und den Richtern J.-P. Snappe, J.-P. Moerman, E. Derycke, P. Nihoul und R. Leysen, unter Assistenz des Kanzlers P.-Y. Dutilleux, unter dem Vorsitz des Präsidenten J. Spreutels,

erlässt nach Beratung folgenden Entscheid:

I. Gegenstand der Vorabentscheidungsfragen und Verfahren

In seinem Entscheid vom 7. März 2014 in Sachen A.O. gegen die « Ethias » AG, dessen Ausfertigung am 17. März 2014 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat der Arbeitsgerichtshof Lüttich folgende Vorabentscheidungsfragen gestellt:

« 1. Verstößt Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971 über die Arbeitsunfälle gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, indem er bei der Ermittlung der Entlohnungsgrundlage zur Berechnung der gesetzlichen Entschädigungen für Arbeitsunfälle zwei Kategorien von Opfern, die sich in unterschiedlichen Situationen befinden, gleich behandelt, und zwar

- einerseits die Opfer, die am Datum, an dem sich der Unfall ereignet hat, ausschließlich im Rahmen eines Vollzeitarbeitsvertrags beschäftigt waren und deren Grundentlohnung nach Maßgabe der Entlohnung, die sie im Laufe des dem Unfall vorangehenden Jahres beanspruchen konnten, berechnet wird;

- andererseits die Opfer, die neben dem Vollzeitarbeitsvertrag, bei dessen Ausführung sich der Unfall ereignet hat, beweisen, dass sie am Datum dieses Unfalls ebenfalls einer Teilzeitbeschäftigung nachgingen, deren Grundentlohnung aber dennoch nach Maßgabe der alleinigen Entlohnung berechnet wird, die sie im Rahmen der Vollzeitbeschäftigung, der sie im Laufe des dem Unfall vorangehenden Jahres nachgingen, erhielten?

2. Steht Artikel 34 des Gesetzes vom 10. April 1971 in Übereinstimmung mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung, wenn er dahingehend ausgelegt wird, dass die Berechnungsgrundlage der Grundentlohnung des Opfers eines Arbeitsunfalls, das beweist, dass es am Datum des Unfalls sowohl einer Vollzeitbeschäftigung als auch einer Teilzeitbeschäftigung nachging, unter Vorbehalt der Anwendung der in Artikel 39 des Gesetzes vom 10. April 1971 erwähnten Entlohnungshöchstbeträge sowohl die erhaltenen Entlohnungen im Rahmen der Teilzeitbeschäftigung als auch diejenigen im Rahmen der Vollzeitbeschäftigung im Laufe des dem Unfall vorangehenden Jahres enthält? ».

(...)

III. Rechtliche Würdigung

(...)

B.1. Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971 über die Arbeitsunfälle bestimmt:

« Unter ' Grundentlohnung ' versteht man die Entlohnung, auf die der Arbeitnehmer für das dem Unfall vorausgehende Jahr aufgrund der Funktion, die er zum Zeitpunkt des Unfalls im Unternehmen ausgeübt hat, Anrecht hat.

Die Bezugsperiode ist nur dann vollständig, wenn der Arbeitnehmer das ganze Jahr Arbeit als Vollzeitarbeitnehmer verrichtet ».

Gemäß den Artikeln 22 und 23 des Gesetzes vom 10. April 1971 wird die « Grundentlohnung » berücksichtigt zur Berechnung des Betrags der täglichen Entschädigung, die dem Opfer eines Arbeitsunfalls gewährt wird, der eine zeitweilige Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Gemäß Artikel 24 dieses Gesetzes wird ebenfalls diese « Grundentlohnung » berücksichtigt zur Berechnung des Betrags der jährlichen Entschädigung, die ab dem Tag, an dem die Unfähigkeit einen bleibenden Charakter aufweist, die tägliche Entschädigung ersetzt.

B.2. Mit der ersten Vorabentscheidungsfrage fragt der vorlegende Richter den Gerichtshof, ob Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971 mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung vereinbar sei, insofern dadurch zur Bestimmung der Entlohnungsgrundlage, die zur Berechnung der gesetzlichen Entschädigungen für Arbeitsunfälle diene, zwei Kategorien von Opfern, die sich in unterschiedlichen Situationen befänden, auf gleiche Weise behandelt würden, nämlich einerseits die Opfer, die am Unfalldatum ausschließlich im Rahmen eines Vollzeitarbeitsvertrags beschäftigt gewesen seien und deren Grundentlohnung nach Maßgabe der Entlohnung berechnet werde, die sie für das dem Unfall voraufgehende Jahr hätten beanspruchen können, und andererseits die Opfer, die neben dem Vollzeitarbeitsvertrag, bei dessen Ausführung sich der Unfall ereignet habe, nachwiesen, dass sie am Datum dieses Unfalls ebenfalls einer Teilzeitbeschäftigung nachgegangen seien, deren Grundentlohnung jedoch nach Maßgabe der Entlohnung berechnet werde, die sie im Rahmen der Vollzeitbeschäftigung erhalten hätten, der sie im Laufe des dem Unfall voraufgehenden Jahres nachgegangen seien.

B.3. Aus dem Sachverhalt der Rechtssache und der Begründung der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die bei dem vorlegenden Richter anhängig gemachte Streitsache den Fall eines Arbeitnehmers betrifft, der Opfer eines Arbeitsunfalls während der Ausführung eines Vollzeitarbeitsvertrags war und der ebenfalls im Rahmen eines anderen, teilzeitigen Arbeitsvertrags für 30 Stunden pro Woche beschäftigt war. Dieser Arbeitsunfall war die Ursache von zwei aufeinander folgenden Zeiträumen der vollständigen zeitweiligen Arbeitsunfähigkeit, zuzüglich zu den Folgen einer teilweisen bleibenden Arbeitsunfähigkeit von 2 Prozent.

B.4. Das System der Wiedergutmachung von Schäden infolge eines Arbeitsunfalls, so wie es durch die aufeinander folgenden Gesetze auf diesem Gebiet organisiert ist, weicht von den gemeinrechtlichen Regeln der zivilrechtlichen Haftung ab.

Diese pauschale Wiedergutmachung beruht nicht auf dem Begriff eines Fehlers, sondern auf dem Begriff des Berufsrisikos.

Die Arbeitgeber tragen zur Finanzierung des Systems der Wiedergutmachung von Schäden infolge von Arbeitsunfällen bei. Dieses System ähnelt dem Mechanismus der Sozialversicherungen.

B.5.1. Das Gesetz vom 24. Dezember 1903 über den Schadenersatz für Arbeitsunfälle sah eine Pauschalentschädigung für einen durch einen Arbeitsunfall verursachten Schaden vor, wobei der Pauschalcharakter der Entschädigung seine Erklärung insbesondere in einer vom allgemeinen Recht abweichenden Haftungsregelung fand, die nicht mehr von dem Begriff « Schuld » ausging, sondern von dem Begriff « Berufsrisiko » und von der Aufteilung des Risikos unter dem Arbeitgeber und dem Opfer des Arbeitsunfalls.

Einerseits wurde der Arbeitgeber, auch wenn ihn keine Schuld traf, stets für den vom Opfer aufgrund eines Arbeitsunfalls erlittenen Schaden haftbar gemacht. Nicht nur, dass das Opfer auf diese Weise der oft sehr schwierig zu erfüllenden Verpflichtung enthoben war, den Nachweis der Schuld des Arbeitgebers oder seines Angestellten und des kausalen Zusammenhangs zwischen dieser Schuld und dem erlittenen Schaden zu erbringen, sondern darüber hinaus hätte sein etwaiger eigener (nicht vorsätzlicher) Fehler weder zum Wegfall der Entschädigung geführt noch ihn haftbar gemacht, wenn durch diesen Fehler ein Dritter Opfer des Arbeitsunfalls geworden wäre. Andererseits erhielt das Opfer des Arbeitsunfalls eine Pauschalentschädigung, die es für den erlittenen Schaden nur teilweise entschädigte.

Aus der Struktur des Gesetzes vom 24. Dezember 1903 und aus den Vorarbeiten (Ann., Kammer, 1902-1903, Sitzung vom 27. Mai 1903, SS. 1266 und 1267) wird somit ersichtlich, dass der Gesetzgeber in voller Kenntnis der Sachlage und wohlüberlegt eine pauschale Entschädigungsregelung eingeführt und unter Berücksichtigung der überwiegenden Mehrheit der Fälle abgefasst hat; er beanspruchte keinesfalls, sich auf die Besonderheiten eines jeden Falls einzustellen, da von der Erwerbsfähigkeit des Opfers, im Wortlaut des Kassationshofes, « gesetzlich vermutet wird, sich in der Grundentlohnung niederzuschlagen » (Kass., 6. März 1968, Pas., 1968, I, SS. 846-848; Kass., 15. Januar 1996, Pas., 1996, I, Nr. 32, SS. 70-73; Kass., 21. Juni 1999, Pas., 1999, II, Nr. 380, SS. 938-941).

Durch verschiedene Gesetzesänderungen wurde das Entschädigungsniveau von ursprünglich 50% der « Grundentlohnung » auf 66% und 100% angehoben. Angepasst wurde nach der Ausweitung der Arbeitsunfallregelung auf die Arbeitswegunfälle auch die ursprünglich vorgeschriebene Immunität des Arbeitgebers.

Bei der Entstehung des Gesetzes vom 10. April 1971 über die Arbeitsunfälle wurde das System durch Einführung der Pflichtversicherung geändert, kraft deren der Arbeitnehmer sich nicht mehr an den Arbeitgeber wendet, sondern an den « gesetzlichen Versicherer ». Von da an wurde nicht mehr die Haftung des Arbeitgebers versichert, sondern der durch den Arbeitnehmer erlittene Schaden, was zu einer größeren Ähnlichkeit des Systems mit dem Mechanismus einer Sozialversicherung führte.

B.5.2. Artikel 7 des Gesetzes vom 10. April 1971 definiert den Arbeitsunfall als « jeden Unfall, der einem Arbeitnehmer während und aufgrund der Ausführung des Arbeitsvertrages widerfährt und bei dem eine Verletzung entsteht ». Das Pauschalentschädigungssystem zielt darauf ab, das Einkommen des Arbeitnehmers gegen ein mögliches Berufsrisiko zu schützen, selbst wenn der Unfall durch diesen Arbeitnehmer oder einen Kollegen verschuldet wurde, sowie den sozialen Frieden und die Arbeitsverhältnisse innerhalb der Betriebe aufrechtzuerhalten, unter Vermeidung einer Zunahme von Haftungsprozessen.

Der Schutz des Arbeitnehmers impliziert, dass dieser im Falle eines durch seinen Fehler verursachten Arbeitsunfalls seiner Haftung enthoben wird. Die Pauschalentschädigung deckt außerdem den Schaden derjenigen, bei denen der Gesetzgeber davon ausgeht, dass sie normalerweise vom Einkommen des Opfers eines tödlichen Unfalls abhängen. In manchen Fällen wird die Pauschalentschädigung höher sein als die, die das Opfer hätte erhalten können, wenn es gegen den schuldigen Verursacher des Unfalls eine gemeinrechtliche Klage eingereicht hätte, und in anderen Fällen wird diese Pauschalentschädigung darunter liegen. Die Finanzierung des Pauschalentschädigungssystems wird durch die Arbeitgeber sichergestellt, die seit 1971 verpflichtet sind, eine Arbeitsunfallversicherung abzuschließen und die Prämienkosten zu tragen. Wenn sich ein Unfall ereignet, wird sich der Arbeitnehmer an den gesetzlichen Versicherer wenden. Der Gesetzgeber war darum bemüht, die daraus sich ergebende wirtschaftliche Last nicht durch eine eventuelle gemeinrechtliche Entschädigungsverpflichtung zu erschweren, und hat aus diesem Grunde die Fälle beschränkt, in denen der Arbeitgeber zivilrechtlich haftbar gemacht werden kann.

B.6. In Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971 über die Arbeitsunfälle ist die Entlohnung, die als Grundlage für die Berechnung der Entschädigungen für Arbeitsunfälle dient, definiert unter Berücksichtigung der pauschalen Beschaffenheit der Entschädigung, die im Falle eines Arbeitsunfalls gewährt wird. Der Gesetzgeber hat diese Regel jedoch durch die Artikel 36 und 37bis des Gesetzes angepasst, wenn der Referenzzeitraum unvollständig ist oder wenn die berücksichtigte Funktion teilzeitig ausgeübt wurde.

Diese Änderungen stellen jedoch nicht die pauschale Beschaffenheit des Systems der Entschädigung in Frage, sondern passen die Regel in sehr spezifischen Fällen der Arbeitsunterbrechung oder der Teilzeitarbeit an, die nicht auf den Fall von Arbeitnehmern, die gleichzeitig eine Teilzeitbeschäftigung und eine Vollzeitbeschäftigung bekleiden, ausgedehnt werden können. Es obliegt dem Gesetzgeber, gegebenenfalls zu beurteilen, ob eine solche Erweiterung unter Berücksichtigung der in B.4 und B.5 in Erinnerung gerufenen Grundsätze zu rechtfertigen ist.

B.7. Angesichts dessen, dass aus den in B.5 dargelegten Gründen die Regeln zur Entschädigung der Arbeitsunfälle ein Ganzes bilden, ist die Bestimmung, wonach bei der Entlohnungsgrundlage neben der Entlohnung, auf die der Arbeitnehmer wegen einer Vollzeitbeschäftigung in einem Unternehmen zum Zeitpunkt des Unfalls Anspruch hat, nicht die Entlohnung berücksichtigt wird, auf die der Arbeitnehmer wegen einer anderen, teilzeitigen Beschäftigung in einem anderen Unternehmen Anspruch hat, nicht unverhältnismäßig.

B.8. Das Bemühen, den Frieden der Arbeitsbeziehungen nicht zu stören, war nicht das einzige Ziel, von dem der Gesetzgeber ausgegangen ist, als er die Folgen der Arbeitsunfälle regelte. Die fragliche Bestimmung bezweckt ebenfalls, einerseits die finanzielle Belastung der Arbeitgeber aufgrund der Zahlung der Prämien der pflichtmäßigen Arbeitsunfallversicherung und andererseits die finanzielle Belastung der Versicherer, die in einer Versicherungslogik die gedeckten Risiken bewerten müssen, nicht zu erschweren. Wenn der Arbeitsunfallversicherer das Opfer eines Arbeitsunfalls nicht nur auf der Grundlage der Entlohnung, auf die es wegen einer Vollzeitbeschäftigung im Unternehmen zum Zeitpunkt des Unfalls Anspruch hat, sondern auch auf der Grundlage einer Entlohnung, auf die der Arbeitnehmer wegen einer Teilzeitbeschäftigung in einem anderen Unternehmen Anspruch hat, entschädigen müsste, wäre das Ziel des Gesetzgebers in Frage gestellt.

B.9. Insofern durch Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971 zur Festlegung der Entlohnungsgrundlage, die als Grundlage für die Berechnung der gesetzlichen Entschädigung für Arbeitsunfälle dient, einerseits die Opfer, die am Unfalldatum ausschließlich durch einen Vollzeitarbeitsvertrag beschäftigt waren, auf die gleiche Weise behandelt werden wie die Opfer, die neben dem Vollzeitarbeitsvertrag, während dessen Ausführung der Unfall sich ereignet hat, nachweisen, dass sie am Unfalldatum ebenfalls teilzeitig beschäftigt waren, ist er nicht unvereinbar mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung.

B.10. Mit der zweiten Vorabentscheidungsfrage befragt der vorlegende Richter den Gerichtshof zur Vereinbarkeit von Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971, ausgelegt in dem Sinne, dass die Berechnungsgrundlage der Grundentlohnung des Opfers eines Arbeitsunfalls, das nachweise, dass es am Unfalldatum sowohl einer Vollzeitbeschäftigung als auch einer Teilzeitbeschäftigung nachgegangen sei, vorbehaltlich der Anwendung der Entlohnungshöchstbeträge im Sinne von Artikel 39 des Gesetzes vom 10. April 1971, sowohl die Entlohnungen einschließe, die es im Rahmen der Teilzeitbeschäftigung erhalten habe, als auch diejenigen, die es im Rahmen der Vollzeitbeschäftigung im Laufe des dem Unfall vorangehenden Jahres erhalten habe, mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung.

B.11. Unter Berücksichtigung der Antwort auf die erste Vorabentscheidungsfrage bedarf die zweite Vorabentscheidungsfrage keiner Antwort.

Aus diesen Gründen:

Der Gerichtshof

erkennt für Recht:

- Artikel 34 Absätze 1 und 2 des Gesetzes vom 10. April 1971 über die Arbeitsunfälle verstößt nicht gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung.

- Die zweite Vorabentscheidungsfrage bedarf keiner Antwort.

Erlassen in französischer und niederländischer Sprache, gemäß Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, am 5. März 2015.

Der Kanzler,

(gez.) P.-Y. Dutilleux

Der Präsident,

(gez.) J. Spreutels