Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 22 September 2016 (België). RG 113/2016

Date :
22-09-2016
Langue :
Allemand Français Néerlandais
Taille :
4 pages
Section :
Jurisprudence
Source :
Justel D-20160922-3
Numéro de rôle :
113/2016

Résumé :

Der Gerichtshof erkennt für Recht: Insofern er es dem Strafrichter nicht erlaubt, dem freigesprochenen Angeklagten und dem zivilrechtlich Haftbaren eine Verfahrensentschädigung in der Berufungsinstanz zu Lasten der in der Sache unterliegenden Zivilpartei zu gewähren, die in Ermangelung jeder Rechtsmitteleinlegung seitens der Staatsanwaltschaft Berufung gegen ein auf Freispruch lautendes Urteil, das auf eine von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Klage hin ergangen ist, eingelegt hat, verstößt Artikel 162bis Absatz 2 des Strafprozessgesetzbuches gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung.

Arrêt :

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Der Verfassungsgerichtshof,

zusammengesetzt aus den Präsidenten J. Spreutels und E. De Groot, und den Richtern L. Lavrysen, J.-P. Snappe, J.-P. Moerman, E. Derycke, T. Merckx-Van Goey, P. Nihoul, F. Daoût und R. Leysen, unter Assistenz des Kanzlers F. Meersschaut, unter dem Vorsitz des Präsidenten J. Spreutels,

erlässt nach Beratung folgenden Entscheid:

I. Gegenstand der Vorabentscheidungsfragen und Verfahren

a. In seinem Urteil vom 13. Januar 2015 in Sachen M.G. (Zivilpartei), J.B. (Angeklagter) und des Belgischen Gemeinsamen Garantiefonds (freiwillig intervenierende Partei), dessen Ausfertigung am 11. Februar 2015 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat das Gericht erster Instanz Lüttich, Abteilung Lüttich, folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt:

« Verstößt Artikel 162bis des Strafprozessgesetzbuches gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, indem er vorsieht, dass der freigesprochene Angeklagte Anrecht auf eine Verfahrensentschädigung zu Lasten der Zivilpartei hat, die ihn direkt geladen hat, aber ausschließt, dass der im Verfahren freigesprochene Angeklagte Anrecht auf eine Verfahrensentschädigung in der Berufungsinstanz zu Lasten der Zivilpartei hat, die, obwohl sie ihn nicht direkt geladen hat, dennoch Berufung eingelegt hat, wobei die Staatsanwaltschaft keine Rechtsmittel geltend gemacht hat? ».

b. In seinem Urteil vom 6. Oktober 2015 in Sachen der « Kuehne + Nagel » AG und anderer, dessen Ausfertigung am 12. November 2015 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat das Gericht erster Instanz Lüttich, Abteilung Lüttich, folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt :

« Verstößt Artikel 162bis des Strafprozessgesetzbuches gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, indem er vorsieht, dass der freigesprochene Angeklagte und der für ihn zivilrechtlich Haftende Anrecht auf eine Verfahrensentschädigung zu Lasten der Zivilpartei haben, die sie direkt geladen hat, aber ausschließt, dass der im Verfahren freigesprochene Angeklagte und der für ihn zivilrechtlich Haftende Anrecht auf eine Verfahrensentschädigung in der Berufungsinstanz zu Lasten der Zivilpartei haben, die, obwohl sie sie nicht direkt geladen hat, dennoch Berufung eingelegt hat, wobei die Staatsanwaltschaft keine Rechtsmittel eingelegt hat? ».

Diese unter den Nummern 6153 und 6294 ins Geschäftsverzeichnis des Gerichtshofes eingetragenen Rechtssachen wurden verbunden.

(...)

III. Rechtliche Würdigung

(...)

B.1.1. Artikel 162bis des Strafprozessgesetzbuches, eingefügt durch Artikel 9 des Gesetzes vom 21. April 2007 « über die Rückforderbarkeit der Rechtsanwaltshonorare und -kosten » und abgeändert durch Artikel 3 des Gesetzes vom 21. Februar 2010 « zur Abänderung der Artikel 1022 des Gerichtsgesetzbuches und 162bis des Strafprozessgesetzbuches », bestimmt:

« Durch jedes auf Verurteilung lautende Urteil gegen den Angeklagten und die für die Straftat zivilrechtlich haftenden Personen werden diese in die in Artikel 1022 des Gerichtsgesetzbuches erwähnte Verfahrensentschädigung zu Gunsten der Zivilpartei verurteilt.

Die Zivilpartei, die die Initiative zu einer direkten Ladung ergriffen hat und in der Sache unterliegt, wird in die in Artikel 1022 des Gerichtsgesetzbuches erwähnte Entschädigung zu Gunsten des Angeklagten und zu Gunsten des zivilrechtlich Haftenden verurteilt. Die Entschädigung wird durch das Urteil bestimmt ».

B.1.2. Der vorerwähnte Artikel 3 des Gesetzes vom 21. Februar 2010, durch den die Wortfolge « und zu Gunsten des zivilrechtlich Haftenden » in Absatz 2 von Artikel 162bis des Strafprozessgesetzbuches eingefügt wurde, ist noch nicht in Kraft getreten.

Diese Wortfolge wurde im Anschluss an den Entscheid Nr. 74/2009 eingefügt, in dem der Gerichtshof festgestellt hat, dass Artikel 162bis des Strafprozessgesetzbuches unvereinbar ist mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung, insofern er es dem Strafrichter nicht erlaubt, der zivilrechtlich haftenden Partei eine Verfahrensentschädigung zu Lasten der unterlegenen direkt ladenden Zivilpartei zu gewähren. Da die in diesem Entscheid erfolgte Feststellung der Rechtslücke in einer ausreichend präzisen und vollständigen Formulierung zum Ausdruck gebracht worden ist, die es erlaubt, Artikel 162bis Absatz 2 des Strafprozessgesetzbuches verfassungskonform anzuwenden, kann jeder Richter - in Erwartung des Inkrafttretens von Artikel 3 des Gesetzes vom 21. Februar 2010 - der in diesem Entscheid vom Gerichtshof festgestellten Verfassungswidrigkeit ein Ende setzen, indem er der zivilrechtlich haftenden Partei eine Verfahrensentschädigung zu Lasten der unterlegenen direkt ladenden Zivilpartei gewährt.

B.2. In den Vorabentscheidungsfragen wird der Gerichtshof gefragt, ob Artikel 162bis Absatz 2 des Strafprozessgesetzbuches mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung vereinbar sei, insofern diese Bestimmung dem freigesprochenen Angeklagten und dem zivilrechtlich Haftenden eine Verfahrensentschädigung zu Lasten der Zivilpartei, die die Initiative zu einer direkten Ladung ergriffen habe und in der Sache unterliege, gewähre, aber weder dem in erster Instanz freigesprochenen Angeklagten noch dem zivilrechtlich Haftenden eine Verfahrensentschädigung zu Lasten der Zivilpartei, die nicht die Initiative zu einer direkten Ladung ergriffen habe, aber in Ermangelung jeder Rechtsmitteleinlegung seitens der Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt habe, gewähre.

B.3.1. Die Verfahrensentschädigung ist « eine Pauschalbeteiligung an den Rechtsanwaltshonoraren und -kosten der obsiegenden Partei » (Artikel 1022 Absatz 1 des Gerichtsgesetzbuches, eingefügt durch Artikel 7 des Gesetzes vom 21. April 2007).

B.3.2. Die Verfahrensentschädigung, um die es in der fraglichen Bestimmung geht, bezieht sich nur auf die Zivilklage, und zwar die Klage auf Wiedergutmachung des durch eine Straftat entstandenen Schadens.

Die fragliche Bestimmung bezweckt somit, der Zivilpartei, die eine solche Klage durch eine direkte Ladung vor das erkennende Gericht eingereicht hat, alle oder einen Teil der Kosten und Honorare des Rechtsanwalts aufzuerlegen, die eine Person, die schließlich freigesprochen wird, oder der zivilrechtlich Haftende im Rahmen der Strafverfolgung, die durch dieses Auftreten als Zivilpartei in Gang gesetzt wurde, zu zahlen hat. Die Zivilpartei, die nicht die Initiative zu einer direkten Ladung ergriffen hat, ihre Klage jedoch der von der Staatsanwalt eingeleiteten Strafverfolgung angeschlossen hat, kann hingegen nicht zur Zahlung der Verfahrensentschädigung an den freigesprochenen Angeklagten und an den zivilrechtlich Haftenden verurteilt werden.

Die Lage des freigesprochenen Angeklagten und des zivilrechtlich Haftenden hängt also in Bezug auf die Rückforderbarkeit davon ab, ob sie auf Initiative der Zivilpartei oder der Staatsanwaltschaft verfolgt werden; im ersten Fall können sie in den Vorteil der Rückforderbarkeit gelangen, im zweiten Fall nicht.

B.4. Die fragliche Bestimmung ist Teil eines Bündels von Maßnahmen, die dem Bemühen entsprechen, dass « Rechtsunterworfene, die die Wiedergutmachung von Schäden vor einem Zivil- bzw. einem Strafgericht fordern, gleich behandelt werden » (Parl. Dok., Senat, 2006-2007, Nr. 3-1686/4, SS. 6 und 8; ebenda, Nr. 3-1686/5, S. 32; Parl. Dok., Kammer, 2006-2007, DOC 51-2891/002, S. 5). Die durch die fragliche Bestimmung vorgeschriebene Verurteilung ist dadurch gerechtfertigt, dass es nicht die Staatsanwaltschaft, sondern die Zivilpartei ist, die « die Strafverfolgung in Gang gesetzt hat », so dass sie « dem Angeklagten gegenüber » als für diese Klage « haftbar » anzusehen ist (Parl. Dok., Senat, 2006-2007, Nr. 3-1686/4, S. 8; Parl. Dok., Kammer, 2006-2007, DOC 51-2891/002, S. 6).

In Bezug auf die Situation des freigesprochenen Angeklagten oder des Beschuldigten, der in den Vorteil einer Verfahrenseinstellung gelangt, wurde in den Vorarbeiten zu der fraglichen Bestimmung außerdem präzisiert:

« Gemäß der Stellungnahme der Rechtsanwaltskammern und des Hohen Justizrates kommt die Rückforderbarkeit im Übrigen in den Beziehungen zwischen dem Angeklagten und dem durch die Staatsanwaltschaft vertretenen Staat nicht zum Tragen. Hier ist anzumerken, dass die Staatsanwaltschaft bei der Ausübung der Verfolgung das Allgemeininteresse vertritt und daher nicht einer Zivilpartei gleichgestellt werden kann, die die Strafverfolgung nur zur Verteidigung eines privaten Interesses in Gang setzen würde » (Parl. Dok., Kammer, 2006-2007, DOC 51-2891/002, SS. 6-7).

B.5.1. Wegen des Auftrags der Staatsanwaltschaft konnte der Gesetzgeber vernünftigerweise davon ausgehen, dass es nicht angebracht war, ein System, nach dem die Verfahrensentschädigung automatisch jedes Mal, wenn ihre Klage ohne Folgen bleiben würde, geschuldet wäre, auf die Staatsanwaltschaft auszudehnen.

B.5.2. Angesichts des Vorstehenden ist es ebenfalls gerechtfertigt, dass die unterliegende Zivilpartei nicht zur Zahlung einer Verfahrensentschädigung an den freigesprochenen Angeklagten und an den zivilrechtlich Haftenden verurteilt wird, wenn sie sich darauf beschränkt hat, ihre Klage einer durch die Staatsanwaltschaft eingeleiteten Strafverfolgung anzuschließen.

Der Gesetzgeber konnte nämlich vernünftigerweise den Standpunkt vertreten, dass die Zivilpartei in diesen Fällen, selbst wenn sie in ihren Ansprüchen abgewiesen würde, nicht als verantwortlich für die Verfolgung des Angeklagten anzusehen ist (Parl. Dok., Senat, 2006-2007, Nr. 3-1686/5, S. 33).

Diese Fälle unterscheiden sich von demjenigen eines bei einem Zivilrichter eingeleiteten Verfahrens, das ungeachtet der Weise der Einleitung nie eine Klage ist, die einer durch die Staatsanwaltschaft in Gang gesetzten Strafverfolgung angeschlossen wird.

Es ist somit gerechtfertigt, dass die Zivilpartei nur dann zur Zahlung der Verfahrensentschädigung an den freigesprochenen Angeklagten oder an den zivilrechtlich Haftbaren verurteilt wird, wenn sie selbst die Strafverfolgung in Gang gesetzt hat.

B.6. Zur Beantwortung der Vorabentscheidungsfragen hat der Gerichtshof noch zu prüfen, ob die in Rede stehende Bestimmung mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung vereinbar ist, insofern sie dem in erster Instanz freigesprochenen Angeklagten und dem zivilrechtlich Haftenden keine Verfahrensentschädigung in der Berufungsinstanz zu Lasten der Zivilpartei, die, obwohl sie die Strafverfolgung nicht selbst in Gang gesetzt hat, in Ermangelung jeder Rechtsmitteleinlegung seitens der Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt hat, gewährt.

B.7. Die Zivilpartei, die als einzige Berufung gegen ein auf Freispruch lautendes Urteil einlegt, wenn die Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet wurde, ergreift die Initiative zu einem neuen Rechtszug, auch wenn sie nicht die Initiative zu der in erster Instanz eingeleiteten Klage ergriffen hat und ihre ursprüngliche Klage der Strafverfolgung angeschlossen hat. Sie übt auf diese Weise ein Recht aus, das ihr eigen ist, und zwar das Recht, ihre Sache erneut von einem höheren Rechtsprechungsorgan beurteilen zu lassen.

Da die Staatsanwaltschaft keine Berufung eingelegt hat, schließt sich die Klage der Zivilpartei in der Berufungsinstanz nicht mehr einer im Allgemeininteresse in Gang gesetzten Klage an; vielmehr zielt sie ausschließlich auf die Verteidigung eines privaten Interesses ab. Ihr liegen also die für das Berufungsverfahren entstandenen Rechtsanwaltshonorare und -kosten zugrunde.

Die fragliche Bestimmung, die zugunsten des freigesprochenen Angeklagten und des zivilrechtlich Haftbaren eine Verfahrensentschädigung zu Lasten der Zivilpartei, die eine Klage mittels einer direkten Ladung einreicht, vorsieht, ohne sie der Zivilpartei aufzuerlegen, die, ohne dass ihr die Staatsanwaltschaft vorausgegangen oder gefolgt ist, Berufung gegen ein Urteil einlegt, das auf eine von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Strafverfolgung hin zugunsten des freigesprochenen Angeklagten und des zivilrechtlich Haftbaren ergangen ist, ist nicht vernünftig gerechtfertigt.

B.8. Da die in B.7 erfolgte Feststellung der Rechtslücke in einer ausreichend präzisen und vollständigen Formulierung ausgedrückt ist, die es ermöglicht, die fragliche Bestimmung unter Einhaltung der Referenznormen, auf deren Grundlage der Gerichtshof seine Kontrolle ausübt, anzuwenden, obliegt es dem vorlegenden Richter, dem Verstoß gegen diese Normen ein Ende zu setzen.

B.9. Die Vorabentscheidungsfrage ist bejahend zu beantworten.

Aus diesen Gründen:

Der Gerichtshof

erkennt für Recht:

Insofern er es dem Strafrichter nicht erlaubt, dem freigesprochenen Angeklagten und dem zivilrechtlich Haftbaren eine Verfahrensentschädigung in der Berufungsinstanz zu Lasten der in der Sache unterliegenden Zivilpartei zu gewähren, die in Ermangelung jeder Rechtsmitteleinlegung seitens der Staatsanwaltschaft Berufung gegen ein auf Freispruch lautendes Urteil, das auf eine von der Staatsanwaltschaft eingeleiteten Klage hin ergangen ist, eingelegt hat, verstößt Artikel 162bis Absatz 2 des Strafprozessgesetzbuches gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung.

Erlassen in französischer und niederländischer Sprache, gemäß Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, am 22. September 2016.

Der Kanzler,

(gez.) F. Meersschaut

Der Präsident,

(gez.) J. Spreutels