Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 29 April 2010 (België). RG 45/2010
- Section :
- Jurisprudence
- Source :
- Justel D-20100429-5
- Numéro de rôle :
- 45/2010
Résumé :
Der Hof erkennt für Recht: Unter Berücksichtigung des in B.6 bis B.8 Erwähnten verstoßen die Artikel 39/60 und 39/81 Absätze 2 bis 4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern nicht gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, insofern ein Ausländer, der vor dem Rat für Ausländerstreitsachen Beschwerde gegen einen Beschluss des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose einlegt, keinen Replikschriftsatz einreichen kann.
Arrêt :
Der Verfassungsgerichtshof,
zusammengesetzt aus den Vorsitzenden M. Melchior und M. Bossuyt, den Richtern R. Henneuse, E. De Groot, L. Lavrysen, A. Alen, J.-P. Snappe, J.-P. Moerman, E. Derycke, J. Spreutels und T. Merckx-Van Goey, und dem emeritierten Vorsitzenden P. Martens gemäss Artikel 60bis des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, unter Assistenz des Kanzlers P.-Y. Dutilleux, unter dem Vorsitz des emeritierten Vorsitzenden P. Martens,
verkündet nach Beratung folgendes Urteil:
I. Gegenstand der präjudiziellen Frage und Verfahren
In seinem Urteil Nr. 193.435 vom 19. Mai 2009 in Sachen Tedde Okum gegen den belgischen Staat, vertreten durch den Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose, dessen Ausfertigung am 2. Juni 2009 in der Kanzlei des Hofes eingegangen ist, hat der Staatsrat folgende präjudizielle Frage gestellt:
« Verstossen die Artikel 39/60 und 39/81 Absätze 2 bis 4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern, wobei die zwei letztgenannten Absätze durch Artikel 4 des Gesetzes vom 4. Mai 2007 zur Abänderung der Artikel 39/20, 39/79 und 39/81 des besagten Gesetzes vom 15. Dezember 1980 darin eingefügt worden sind, gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, indem der Ausländer, der vor dem Rat für Ausländerstreitsachen Beschwerde im Verfahren mit unbeschränkter Rechtsprechung gegen einen Beschluss des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose einlegt, keinen Replikschriftsatz einreichen kann, während derjenige, der eine Nichtigkeitsklage erhebt, wohl einen solchen Schriftsatz einreichen kann? ».
(...)
III. In rechtlicher Beziehung
(...)
B.1.1. Die präjudizielle Frage bezieht sich auf die Artikel 39/60 und 39/81 Absätze 2 bis 4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern. Diese Bestimmungen handeln vom Rat für Ausländerstreitsachen.
B.1.2. Die durch Artikel 39/2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 dem Rat für Ausländerstreitsachen erteilten Zuständigkeiten sind zweierlei Art:
- Aufgrund von Paragraph 1 von Artikel 39/2 befindet der Rat für Ausländerstreitsachen, wenn er in Angelegenheiten des Asyls und des subsidiären Schutzes urteilt, über die Beschwerden, die gegen die Beschlüsse des Generalkommissars eingereicht werden; es handelt sich um die Zuständigkeit, die zuvor in Asylangelegenheiten dem Ständigen Widerspruchsausschuss für Flüchtlinge erteilt worden war.
- Aufgrund von Paragraph 2 dieses Artikels tritt der Rat für Ausländerstreitsachen als Annullationsrichter auf, wenn er über die übrigen Beschwerden wegen Verletzung wesentlicher oder unter Androhung der Nichtigkeit auferlegter Formvorschriften, wegen Befugnisüberschreitung oder wegen Befugnismissbrauchs urteilt; es handelt sich um die Zuständigkeit, die zuvor dem Staatsrat erteilt worden war.
Folglich unterscheiden sich die Zuständigkeiten, die dem Rat für Ausländerstreitsachen erteilt worden sind, je nachdem, ob der Rat seine Zuständigkeiten aufgrund von Paragraph 1 oder aufgrund von Paragraph 2 von Artikel 39/2 ausübt.
B.1.3. Artikel 39/60 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 gehört zu den Verfahrensbestimmungen, die den beiden Arten von Streitfällen gemeinsam sind; er lautet wie folgt:
« Das Verfahren ist schriftlich.
Die Parteien und ihr Rechtsanwalt dürfen in der Sitzung mündlich ihre Anmerkungen vorbringen. Es dürfen keine anderen Gründe als die im Antrag oder Schriftsatz angeführten Gründe geltend gemacht werden ».
Artikel 39/81 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 bezieht sich nur auf das Nichtigerklärungsverfahren. Die Absätze 2 bis 4 dieser Bestimmung, eingefügt durch das Gesetz vom 4. Mai 2007 und vor ihrer Abänderung durch Artikel 4 des Gesetzes vom 23. Dezember 2009 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen in Sachen Migration und Asyl, lauten wie folgt:
« Finden weder der Artikel 39/73 noch die in Artikel 39/68 erwähnten besonderen Verfahrensregeln Anwendung, übermittelt die Kanzlei der antragstellenden Partei in Abweichung von Absatz 1 rechtzeitig eine Abschrift des Schriftsatzes mit Anmerkungen und setzt sie gleichzeitig von der Hinterlegung der Verwaltungsakte bei der Kanzlei in Kenntnis. Die antragstellende Partei verfügt über fünfzehn Tage, um der Kanzlei einen Replikschriftsatz zukommen zu lassen. Versäumt die Gegenpartei, den Schriftsatz mit Anmerkungen binnen der in Artikel 39/72 § 1 Absatz 1 erwähnten Frist zu übermitteln, setzt die Kanzlei die antragstellende Partei davon in Kenntnis. Die antragstellende Partei verfügt über fünfzehn Tage, um der Kanzlei einen Replikschriftsatz zukommen zu lassen.
Hat die antragstellende Partei binnen der in Absatz 2 erwähnten Frist keinen Replikschriftsatz eingereicht, befindet der Rat unverzüglich nach Anhörung der Parteien, die darum ersucht haben, und stellt fest, dass das erforderliche Interesse fehlt. Dasselbe gilt für antragstellende Parteien, die nach Ablehnung des Antrags auf Aussetzung eines Aktes keinen Replikschriftsatz binnen der vorgesehenen Frist einreichen. Das Verfahren ist in dem in Artikel 39/68 erwähnten Erlass bestimmt.
Hat die antragstellende Partei binnen der vorgesehenen Frist einen Replikschriftsatz eingereicht, wird das Verfahren unbeschadet der Möglichkeit zur Anwendung der in Artikel 39/68 erwähnten besonderen Verfahrensregeln gemäss den in Absatz 1 erwähnten Bestimmungen fortgesetzt ».
B.2. Das vorlegende Rechtsprechungsorgan fragt den Hof, ob es diskriminierend sei, wenn ein Ausländer, der beim Rat für Ausländerstreitsachen eine Beschwerde gegen einen Beschluss des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose einlege, keine Möglichkeit habe, einen Replikschriftsatz einzureichen, während ein Ausländer, der dort eine Nichtigkeitsklage wegen Verletzung entweder wesentlicher oder unter Androhung der Nichtigkeit auferlegter Formvorschriften, wegen Befugnisüberschreitung oder wegen Befugnismissbrauchs einreiche, über diese Möglichkeit verfüge.
B.3. Bei ihrer Einfügung in das Gesetz vom 15. Dezember 1980 durch das Gesetz vom 15. September 2006 zur Reform des Staatsrates und zur Schaffung eines Rates für Ausländerstreitsachen sahen die fraglichen Bestimmungen nicht die Möglichkeit des Antragstellers vor, einen Replikschriftsatz einzureichen, weder in Nichtigkeitsstreitsachen, noch in Streitsachen über Beschwerden gegen Beschlüsse des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose. In beiden Verfahren verfügte jede Partei also nur über einen Verfahrensschriftsatz, und zwar den Antrag für den Antragsteller und den Schriftsatz für die Gegenpartei.
Im Gesetz vom 4. Mai 2007 wurde die Hinterlegung eines zusätzlichen Verfahrensschriftstücks durch den Antragsteller vorgesehen, nämlich der Replikschriftsatz, wenn der Rat für Ausländerstreitsachen seine Befugnisse auf der Grundlage von Paragraph 2 von Artikel 39/2 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 ausübt. Der Abänderungsantrag, der der Einfügung der Absätze 2 bis 4 in Artikel 39/81 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 durch das Gesetz vom 4. Mai 2007 zugrunde lag, wurde wie folgt begründet:
« Artikel 39/81 sieht vor, dass das Nichtigkeitsverfahren auf die gleiche Weise abläuft wie das Verfahren mit unbeschränkter Rechtsprechung. Dieser Verweis beinhaltet ebenfalls, dass in einer Nichtigkeitsklage - ungeachtet dessen, ob vorher ein Aussetzungsantrag gestellt wurde oder nicht - die antragstellende Partei nicht die Möglichkeit hat, eine Erwiderung auf die Rechtsargumente, die von der Gegenpartei in ihrem Schriftsatz vorgebracht wurden, einzureichen. Da diese Erwiderung sich hauptsächlich auf rechtliche Anfechtungen bezüglich der Zulässigkeit und der Gesetzmässigkeit bezieht, ist es wünschenswert, dass die antragstellende Partei die Möglichkeit erhält, ihre Rechtsargumente in einem Replikschriftsatz darzulegen » (Parl. Dok., Kammer, 2006-2007, DOC 51-2845/002, S. 5).
B.4. Aus der Begründung geht hervor, dass der Gesetzgeber die Verfahren in Ausländersachen verbessern und rationalisieren wollte: « Es ist deutlich, dass insbesondere ein schnelleres Asylverfahren, das den Rechten der Asylsuchenden Rechnung trägt, für die tatsächlichen [Flüchtlinge] nur vorteilhaft sein kann. Ein solches Verfahren ist hingegen abschreckend für Ausländer, die zu Unrecht ein solches Verfahren in Anspruch nehmen » (Parl. Dok., Kammer, 2005-2006, DOC 51-2479/001, S. 17). « Das vorgeschlagene Verfahren bezweckt, die Bearbeitungsdauer der Asylanträge und der anderen Entscheidungen drastisch zu verkürzen, ohne das Recht auf wirksamen Rechtsschutz zu beeinträchtigen » (ebenda, S. 19).
B.5. Die beiden Verfahren vor dem Rat für Ausländerstreitsachen sind weitgehend parallel. Der Gesetzgeber konnte jedoch die spezifischen Merkmale jeder Streitsache berücksichtigen, um den präzisen Ablauf eines jeden Verfahrens festzulegen und insbesondere die Zahl der Dokumente, die durch jede Partei zu hinterlegen sind, zu bestimmen. Hierzu konnte er der besonderen Beschaffenheit der Nichtigkeitsstreitsachen Rechnung tragen, bei denen im Allgemeinen eine eher technische und juristische Debatte stattfindet. In diesen Streitsachen ist es möglich, dass Rechtsargumente, auf die sich die Verwaltung stützt, dem betroffenen Ausländer und seinem Rechtsbeistand erst in dem von der Gegenpartei hinterlegten Schriftsatz zur Kenntnis gebracht werden. Dieser Umstand rechtfertigt es, dass der Gesetzgeber später im Gesetz vom 4. Mai 2007 vorgesehen hat, dass der antragstellende Ausländer mit einem zusätzlichen Verfahrensdokument auf diesen Schriftsatz antworten kann.
In den anderen in B.1.2 erwähnten Streitsachen hingegen urteilt der Rat für Ausländerstreitsachen ausschliesslich auf der Grundlage der Verfahrensakte, zu der die Verwaltungsakte, auf die sich der Generalkommissar für Flüchtlinge und Staatenlose gestützt hat, um zu der betreffenden Verwaltungsentscheidung zu gelangen, sowie die Verfahrensunterlagen gehören, und die sich vor ihm entwickelnde Debatte betrifft in der Regel hauptsächlich faktische Fragen. Folglich beruht der bemängelte Behandlungsunterschied auf einem objektiven und relevanten Kriterium.
B.6. In Artikel 39/60 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 ist präzisiert, dass « die Parteien und ihr Rechtsanwalt [...] in der Sitzung mündlich ihre Anmerkungen vorbringen [dürfen] ». Die schriftliche Beschaffenheit des Verfahrens verbietet es, dass in der Sitzung neue Klagegründe vorgelegt werden, doch sie kann die Parteien nicht daran hindern, in der Sitzung mündlich faktische und rechtliche Argumente zu beantworten, die gegebenenfalls zum ersten Mal in den letzten Verfahrensdokumenten angeführt wurden. Dies gilt um so mehr, wenn jede von ihnen über nur ein Verfahrensdokument verfügt und der Sitzungstermin somit der einzige Zeitpunkt ist, zu dem die antragstellende Partei berechtigt ist, auf die von der Gegenpartei in ihrem Schriftsatz dargelegten Argumente zu antworten.
B.7. Im Ubrigen ist im Gesetz vom 15. Dezember 1980 vorgesehen, dass der Rat für Ausländerstreitsachen die « neuen Sachverhalte » berücksichtigt, die bei der Prüfung der Beschwerde gegen den Beschluss des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose unter den in Artikel 39/76 festgelegten Bedingungen unterbreitet werden. In seinem Urteil Nr. 81/2008 vom 27. Mai 2008 hat der Hof erkannt, dass diese Bestimmung, um dem Willen des Gesetzgebers zu entsprechen, dem Rat volle Rechtsprechungsbefugnis auf diesem Gebiet zu erteilen, in dem Sinne auszulegen ist, dass sie den Rat verpflichtet, alle neuen Sachverhalte zu prüfen, die der Antragsteller vorlegt und die auf sichere Weise die Begründetheit der Klage nachweisen können, und ihnen Rechnung zu tragen. Er hat ferner erkannt, dass die Bedingungen für die Prüfung der neuen Sachverhalte kein Hindernis für die volle Rechtsprechungsbefugnis des Rates auf diesem Gebiet darstellen können und dass die Bedingung, dass der neue Sachverhalt eine Grundlage findet in der Verfahrensakte, es folglich nicht ermöglichen kann, nur die Sachverhalte zu ignorieren, die keinen Zusammenhang mit der im Asylantrag und während seiner administrativen Untersuchung geäusserten Befürchtung aufweisen (B.29.5 und B.29.6).
B.8. Wenn der Rat für Ausländerstreitsachen auf der Grundlage von Artikel 39/76 § 1 Absatz 3 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 selbst der Auffassung ist, dass « neue Sachverhalte » in der Rechtssache berücksichtigt werden müssen, sieht Artikel 39/76 § 1 Absatz 6 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 ausdrücklich vor, dass in dem Fall, wo der Generalkommissar bei dieser Gelegenheit einen schriftlichen Bericht über diese neuen Sachverhalte vorlegt, die antragstellende Partei innerhalb der vom Richter festgelegten Frist einen Schriftsatz mit den Repliken in Bezug auf diesen Bericht einreichen muss. Die Rechte der Verteidigung werden also nicht verletzt. Ausserdem kann gegen die Entscheidung des Rates für Ausländerstreitsachen noch eine Kassationsbeschwerde beim Staatsrat eingelegt werden.
B.9. Unter Berücksichtigung der in B.6 bis B.8 in Erinnerung gerufenen Garantien hat das Fehlen der Möglichkeit, in anderen als den ausdrücklich im Gesetz vorgesehenen Fällen einen Replikschriftsatz einzureichen, also keine unverhältnismässigen Folgen für Ausländer, die beim Rat für Ausländerstreitsachen eine Beschwerde gegen einen Beschluss des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose einreichen.
B.10. Die präjudizielle Frage ist verneinend zu beantworten.
Aus diesen Gründen:
Der Hof
erkennt für Recht:
Unter Berücksichtigung des in B.6 bis B.8 Erwähnten verstossen die Artikel 39/60 und 39/81 Absätze 2 bis 4 des Gesetzes vom 15. Dezember 1980 über die Einreise ins Staatsgebiet, den Aufenthalt, die Niederlassung und das Entfernen von Ausländern nicht gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, insofern ein Ausländer, der vor dem Rat für Ausländerstreitsachen Beschwerde gegen einen Beschluss des Generalkommissars für Flüchtlinge und Staatenlose einlegt, keinen Replikschriftsatz einreichen kann.
Verkündet in französischer und niederländischer Sprache, gemäss Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, in der öffentlichen Sitzung vom 29. April 2010.
Der Kanzler,
(gez.) P.-Y. Dutilleux.
Der Vorsitzende,
(gez.) P. Martens.