Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 7 März 2013 (België). RG 30/2013
- Section :
- Jurisprudence
- Source :
- Justel D-20130307-3
- Numéro de rôle :
- 30/2013
Résumé :
Der Gerichtshof erkennt für Recht: Indem er bestimmt, dass das Gericht die Klage nur abweist, wenn die Feststellung der Abstammung « offensichtlich nicht im Interesse des Kindes ist », verstößt Artikel 332quinquies § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches, dahingehend ausgelegt, dass er dem Richter nur eine marginale Prüfung des Interesses des Kindes erlaubt, gegen Artikel 22bis Absatz 4 der Verfassung.
Arrêt :
Der Verfassungsgerichtshof,
zusammengesetzt aus dem vorsitzenden Richter J.-P. Snappe, dem Präsidenten M. Bossuyt, und den Richtern E. De Groot, A. Alen, J.-P. Moerman, E. Derycke, J. Spreutels, T. Merckx-Van Goey, P. Nihoul und F. Daoût, unter Assistenz des Kanzlers P.-Y. Dutilleux, unter dem Vorsitz des Richters J.-P. Snappe,
verkündet nach Beratung folgenden Entscheid:
I. Gegenstand der Vorabentscheidungsfrage und Verfahren
In seinem Entscheid vom 2. März 2012 in Sachen J.H. und S.L. gegen P.K., dessen Ausfertigung am 19. März 2012 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat der Kassationshof folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt:
« Verstösst Artikel 332quinquies § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches, dahingehend ausgelegt, dass er nur eine marginale Berücksichtigung des Interesses des Kindes auferlegt, gegen Artikel 22bis Absatz 4 der Verfassung? ».
(...)
III. Rechtliche Würdigung
(...)
B.1. Artikel 315 des Zivilgesetzbuches bestimmt:
« Das Kind, das während der Ehe oder innerhalb von 300 Tagen nach der Auflösung oder Erklärung der Nichtigkeit der Ehe geboren ist, hat den Ehemann als Vater ».
Artikel 318 des Zivilgesetzbuches bestimmt:
« § 1. Ausser wenn das Kind den Besitz des Standes hinsichtlich des Ehemannes hat, kann die Vaterschaftsvermutung von der Mutter, dem Kind, dem Mann, hinsichtlich dessen die Abstammung feststeht, und von der Person, die die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt, angefochten werden.
§ 2. Die Klage der Mutter muss binnen einem Jahr nach der Geburt eingereicht werden. Die Klage des Ehemannes muss binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er nicht der Vater des Kindes ist, diejenige der Person, die die Vaterschaft für sich in Anspruch nimmt, binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er der Vater des Kindes ist, und diejenige des Kindes frühestens an dem Tag, wo es das zwölfte Lebensjahr vollendet hat, und spätestens an dem Tag, wo es das zweiundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, oder binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass der Ehemann nicht sein Vater ist,] eingereicht werden.
Wenn der Ehemann verstorben ist, ohne gerichtlich vorgegangen zu sein, und die dafür vorgesehene Frist noch nicht abgelaufen ist, kann seine Vaterschaft binnen einem Jahr nach seinem Tod oder nach der Geburt durch seine Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie angefochten werden.
Die aufgrund von Artikel 317 festgestellte Vaterschaft kann ausserdem vom früheren Ehemann angefochten werden.
§ 3. Unbeschadet der Bestimmungen in den Paragraphen 1 und 2 wird die Vaterschaft des Ehemannes für unwirksam erklärt, wenn mit allen rechtlichen Mitteln nachgewiesen worden ist, dass der Betreffende nicht der Vater ist.
Die Anfechtung der Vermutung der Vaterschaft des Ehemannes wird - ausser bei Beweis des Gegenteils - zudem für begründet erklärt:
1. in den in Artikel 316bis erwähnten Fällen,
2. wenn die Abstammung mütterlicherseits durch Anerkennung oder durch eine gerichtliche Entscheidung festgestellt worden ist,
3. wenn die Klage eingereicht wurde, bevor die Abstammung mütterlicherseits festgestellt war.
§ 4. Die Klage auf Anfechtung der Vaterschaftsvermutung ist nicht zulässig, wenn der Ehemann der künstlichen Befruchtung oder einer anderen Handlung, die die Fortpflanzung zum Ziele hat, zugestimmt hat, ausser wenn die Zeugung des Kindes nicht die Folge dieser Handlung sein kann.
§ 5. Die Anfechtungsklage, die von der Person eingereicht wird, die behauptet, der biologische Vater des Kindes zu sein, ist nur dann begründet, wenn seine Vaterschaft festgestellt worden ist. Die Entscheidung, durch die dieser Anfechtungsklage stattgegeben wird, hat von Rechts wegen die Feststellung der Abstammung des Klägers zur Folge. Das Gericht überprüft, ob die Bedingungen von Artikel 332quinquies eingehalten worden sind. In Ermangelung dessen wird die Klage abgewiesen ».
Artikel 332quinquies §§ 1 bis 3 des Zivilgesetzbuches bestimmt:
« § 1. Die Klagen auf Ermittlung der Mutterschaft oder der Vaterschaft sind nicht zulässig, wenn das volljährige Kind oder der für mündig erklärte Minderjährige dagegen Einspruch erhebt.
§ 2. Wird der Einspruch von einem nicht für mündig erklärten Minderjährigen, der das zwölfte Lebensjahr vollendet hat, oder von dem Elternteil des Kindes, hinsichtlich dessen die Abstammung feststeht, erhoben, weist das Gericht - unbeschadet des Paragraphen 3 - die Klage nur ab, wenn sie ein Kind betrifft, das zum Zeitpunkt des Einreichens der Klage mindestens ein Jahr alt ist, und die Feststellung der Abstammung offensichtlich nicht im Interesse des Kindes ist.
Der Einspruch des Kindes wird nicht berücksichtigt, wenn es entmündigt ist oder unter dem Statut der verlängerten Minderjährigkeit steht oder wenn das Gericht aufgrund von faktischen Elementen, die in einem mit Gründen versehenen Protokoll festgehalten sind, urteilt, dass das Kind kein Unterscheidungsvermögen besitzt.
§ 3. Das Gericht weist die Klage in jedem Fall ab, wenn erwiesen ist, dass derjenige beziehungsweise diejenige, dessen beziehungsweise deren Abstammung ermittelt wird, nicht der biologische Vater beziehungsweise die biologische Mutter des Kindes ist ».
B.2. Aus dem Sachverhalt der dem vorlegenden Richter unterbreiteten Rechtssache und der Begründung der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Streitsache ein 2004 geborenes Kind, dessen Mutter und den Ehepartner seiner Mutter betrifft, die klagende Parteien vor dem vorlegenden Richter sind, sowie einen Mann, dessen biologische Vaterschaft nicht angefochten wird, der die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt und beklagte Partei vor dem vorlegenden Richter ist. Ausserdem geht daraus hervor, dass die Klage auf Anfechtung der Vaterschaft nicht aufgrund von Artikel 318 § 1 des Zivilgesetzbuches für unzulässig erklärt worden ist trotz der ununterbrochenen Beschaffenheit des Besitzes des Standes des Kindes hinsichtlich des Ehepartners, weil dieser Besitz des Standes nicht eindeutig war.
B.3. Die Vorabentscheidungsfrage bezieht sich darauf, ob Artikel 332quinquies § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches, ausgelegt in dem Sinne, dass er dem Richter nur eine marginale Berücksichtigung der Interessen des Kindes auferlege, mit Artikel 22bis der Verfassung vereinbar sei, insofern dieser bei jeder in Bezug auf das Kind zu treffenden Entscheidung erfordere, dass sein Interesse vorrangig berücksichtigt werde.
B.4. Artikel 22bis der Verfassung bestimmt:
« Jedes Kind hat ein Recht auf Achtung vor seiner moralischen, körperlichen, geistigen und sexuellen Unversehrtheit.
Jedes Kind hat das Recht, sich in allen Angelegenheiten, die es betreffen, zu äussern; seiner Meinung wird unter Berücksichtigung seines Alters und seines Unterscheidungsvermögens Rechnung getragen.
Jedes Kind hat das Recht auf Massnahmen und Dienste, die seine Entwicklung fördern.
Das Wohl des Kindes ist in allen Entscheidungen, die es betreffen, vorrangig zu berücksichtigen.
Das Gesetz, das Dekret oder die in Artikel 134 erwähnte Regel gewährleistet diese Rechte des Kindes ».
B.5.1. Absatz 4 dieser Bestimmung, der sich auf das Interesse des Kindes bezieht, ist ebenso wie die Absätze 2, 3 und 5 aus der Verfassungsrevision vom 22. Dezember 2008 hervorgegangen, die bezweckte, die verfassungsmässige Anerkennung der Rechte des Kindes auf das auszudehnen, was das Wesentliche des Ubereinkommens über die Rechte des Kindes darstellt (Parl. Dok., Senat, 2004-2005, Nr. 3-265/3, S. 41).
B.5.2. Artikel 3 Absatz 1 dieses Ubereinkommens bestimmt:
« Bei allen Massnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist ».
B.5.3. Sowohl Artikel 22bis Absatz 4 der Verfassung als auch Artikel 3 Absatz 1 des Ubereinkommens über die Rechte des Kindes schreiben den Gerichten vor, vorrangig das Interesse des Kindes in den Verfahren, die es betreffen, zu berücksichtigen. Artikel 22bis Absatz 5 der Verfassung erteilt im Ubrigen dem zuständigen Gesetzgeber den Auftrag zu gewährleisten, dass das Interesse des Kindes vorrangig berücksichtigt wird.
B.6.1. Die Möglichkeit für einen Mann, der die Vaterschaft hinsichtlich eines Kindes für sich in Anspruch nimmt, die Vaterschaftsvermutung des Ehepartners der Mutter des Kindes anzufechten, ist in Artikel 318 des Zivilgesetzbuches durch das Gesetz vom 1. Juli 2006 zur Abänderung der Bestimmungen des Zivilgesetzbuches mit Bezug auf die Feststellung der Abstammung und deren Wirkungen eingeführt worden.
B.6.2. Artikel 332quinquies § 2 des Zivilgesetzbuches, auf den sich die Vorabentscheidungsfrage bezieht, ist ebenfalls aus dem Gesetz vom 1. Juli 2006 hervorgegangen.
Der Gesetzgeber hat Parallellismen - wenn nicht gar eine Einheitlichkeit - in der Weise der Feststellung der unterschiedlichen Abstammungsarten angestrebt, sowohl bezüglich der Bedingungen für die Anerkennung und der Klage auf Vaterschafts- und Mutterschaftsermittlung (Parl. Dok., Senat, 2005-2006, Nr. 3-1402/3, S. 16), als auch bezüglich der Klagen auf Mutterschaftsermittlung und derjenigen auf Vaterschaftsermittlung im Sinne des fraglichen Artikels 332quinquies (Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/024, S. 67).
Die schliesslich angenommene Formulierung, die es dem Gericht ermöglicht, die Klage bezüglich der Feststellung der Abstammung mütterlicherseits oder väterlicherseits abzuweisen, wenn sie « offensichtlich nicht im Interesse des Kindes » ist, ist die gleiche, wie sie für Artikel 329bis § 2 Absatz 3 und § 3 Absatz 5 des Zivilgesetzbuches angenommen wurde und die es ermöglicht, Anerkennungen zu verhindern.
B.6.3. Im ursprünglichen Gesetzesvorschlag sah Artikel 332quinquies vor, dass das Gericht unter Berücksichtigung des Interessen des Kindes entscheidet:
« Klagen auf Mutter- oder Vaterschaftsermittlung werden abgewiesen, wenn sich das volljährige Kind oder das für mündig erklärte minderjährige Kind dem widersetzt. Wenn die Verweigerung von einem nicht für mündig erklärten minderjährigen Kind ausgeht, das zwölf Jahre alt ist, oder von dem Erzeuger des Kindes, dessen Abstammung erwiesen ist, entscheidet das Gericht unter Berücksichtigung der Interessen des Kindes, ob die Abstammung festgestellt werden kann. In jedem Fall weist das Gericht den Antrag ab, wenn bewiesen wird, dass derjenige oder diejenige, von dem oder der die Abstammung ermittelt wird, nicht der biologische Vater bzw. die biologische Mutter des Kindes ist » (Parl. Dok., Kammer, 2003-2004, DOC 51-0597/001, S. 18, und 2004-2005, DOC 51-0597/024, S. 68).
Dieser Wortlaut wurde im Anschluss an folgende Anmerkungen abgelehnt:
« Im Fall D [derjenige von Artikel 332quinquies] besitzt der Richter eine umfassendere Ermessensbefugnis als in den Fällen A-C [diejenigen der anderen vorstehend erwähnten Bestimmungen], in denen er nur ein marginales Kontrollrecht besitzt (' offensichtlich nicht im Interesse '), während er im Fall D ' unter Berücksichtigung der Interessen des Kindes ' entscheidet. Um etwaige Diskriminierungen zu vermeiden, ist es zu empfehlen, das Verfahren zu rationalisieren und auch hier nur eine marginale Kontrolle vorzusehen » (Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/032, S. 85).
Anlässlich der Diskussionen in Bezug auf Artikel 329bis waren die Interessen des Kindes und die durch den Richter ausgeübte marginale Prüfung Gegenstand folgender Anmerkungen:
« Die Berücksichtigung der Interessen des Kindes muss immer möglich sein oder nie. Ausserdem muss diese Möglichkeit selbstverständlich in Artikel 329bis und Artikel 332quinquies die gleiche sein.
Ungeachtet dessen ist es vorzuziehen, dass diese Möglichkeit zur Berücksichtigung der Interessen des Kindes marginal ist, wenn man von der biologischen Wirklichkeit ausgeht.
In seinem jüngsten diesbezüglichen Entscheid hat der Schiedshof klar den Standpunkt vertreten, dass die Berücksichtigung der Interessen des minderjährigen Kindes immer möglich sein muss (Entscheid Nr. 66/2003), und ist somit zur vorherigen Rechtsprechung zurückgekehrt.
Dieser Entscheid entspricht im Ubrigen genau der europäischen Rechtsprechung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war der Auffassung, dass die väterliche Anerkennung im Interesse des Kindes verweigert werden kann, obwohl das Bestehen der biologischen Verbindung nicht angefochten wird (EuGHMR, Urteil Yousef gegen Niederlande vom 5. November 2002).
Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Regel, wonach die Berücksichtung der Interessen des Kindes nie möglich ist, im Widerspruch zu unserer Verfassung oder zu Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention stehen würde. Der Redner verweist im Ubrigen auf den Gesetzesvorschlag 0209/001, obwohl er sich zu Unrecht nur auf die Anerkennung der Vaterschaft und nicht auf deren Feststellung auf gerichtlichem Wege bezieht.
Der Redner ist der Auffassung, dass in Bezug auf die ursprüngliche Abstammung die biologische Wahrheit Vorrang haben kann, so dass es nie notwendig ist, die Interessen des Kindes zu berücksichtigen.
Wenn die Feststellung der Abstammung dem biologischen Elternteil gegenüber dem Kind schaden kann, kann deren Funktionieren beispielsweise durch eine Entziehung der elterlichen Gewalt ausgeschlossen werden.
Wenn die Feststellung der Abstammung einem nicht biologischen Elternteil gegenüber für das Kind wünschenswert wäre, stellt die Adoption eine wirksame Lösung dar » (ebenda, DOC 51-0597/024, S. 119).
Ferner wurde erklärt, dass das Wort « offensichtlich » in Artikel 329bis § 2 aufgenommen wurde, weil es notwendig war, dass die Kontrolle marginal bleibt, um « nur die schwere Gefahr für das Kind zu berücksichtigen » (ebenda, S. 57).
B.6.4. Folglich erlegt Artikel 332quinquies § 2 Absatz 1 dem Richter eine marginale Prüfung der Interessen des Kindes auf, wobei sie nur berücksichtigt werden, wenn ihnen ernsthaft geschadet wird.
B.7. Wenn der Gesetzgeber eine gesetzliche Regelung in Bezug auf die Abstammung festlegt, muss er es den zuständigen Behörden ermöglichen, in concreto die Interessen der verschiedenen betroffenen Personen gegeneinander abzuwägen, da er sonst Gefahr läuft, eine Massnahme zu ergreifen, die nicht im Verhältnis zu den angestrebten rechtmässigen Zielsetzungen stehen würde.
B.8. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Ubrigen präzisiert, dass bei der Abwägung der beteiligten Interessen die Interessen des Kindes eine besondere Bedeutung haben.
So hat er geurteilt:
« Der Gerichtshof bestätigt erneut, dass in dem Fall, wo es um die Rechte geht, die den Eltern durch Artikel 8 garantiert werden, und diejenigen eines Kindes, die Gerichtshöfe und Gerichte den Rechten des Kindes die grösste Bedeutung beimessen müssen. Wenn eine Abwägung der Interessen notwendig ist, müssen die Interessen des Kindes Vorrang haben » (EuGHMR, 5. November 2002, Yousef gegen Niederlande, § 73).
Er hat hinzugefügt:
- dass « insbesondere die übergeordneten Interessen des Kindes » zu berücksichtigen sind und dass « das Interesse des Kindes in dieser Art von Rechtssachen Vorrang haben muss » (EuGHMR, 26. Juni 2003, Maire gegen Portugal, §§ 71 und 77);
- dass eine « besondere Bedeutung » den übergeordneten Interessen des Kindes beizumessen ist, « die entsprechend ihrer Beschaffenheit und ihrer Ernsthaftigkeit Vorrang vor denjenigen der Eltern haben können » (8. Juli 2003, Sommerfeld gegen Deutschland, § 64);
- « das derzeit ein breiter Konsens - einschliesslich im internationalen Recht - rund um die Idee besteht, dass in allen Entscheidungen über Kinder ihre übergeordneten Interessen Vorrang haben müssen (siehe vorstehend die zahlreichen Referenzen, die in den Paragraphen 49-56 zitiert wurden) » (EuGHMR, 6. Juli 2010, Neulinger und Shuruk gegen Schweiz, § 135);
- « Die Prüfung dessen, was am besten den Interessen des betroffenen Kindes dient, ist immer von vorrangiger Bedeutung in jeder Sache dieser Art; die Interessen des Kindes können entsprechend ihrer Beschaffenheit und ihrer Ernsthaftigkeit Vorrang vor denjenigen der Eltern haben (siehe das vorerwähnte Urteil Sommerfeld, § 66, und Görgülü gegen Deutschland, Nr. 74969/01, § 43, 26. Februar 2004) » (EuGHMR, 22. März 2012, Ahrens gegen Deutschland, § 63).
Im Ubrigen, « gemäss den Grundsätzen, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergeben, muss dort, wo das Bestehen einer Familienverbindung mit einem Kind erwiesen ist, der Staat so handeln, dass diese Verbindung sich entwickeln kann, und einen Rechtsschutz gewähren, der die Integration des Kindes in seine Familie ermöglicht » (EuGHMR, 28. Juni 2007, Wagner und J.M.W.L. gegen Luxemburg, § 119).
B.9. Wie in B.5.3 angemerkt wurde, schreiben sowohl Artikel 22bis Absatz 4 der Verfassung als auch Artikel 3 Absatz 1 des Ubereinkommens über die Rechte des Kindes den Gerichten vor, vorrangig die Interessen des Kindes in den Verfahren, die es betreffen, zu berücksichtigen, und hierzu gehören auch die Verfahren über die Feststellung der Abstammung.
B.10. Auch wenn die Interessen des Kindes von vorrangiger Bedeutung sind, haben sie dennoch keine absolute Geltung. Bei der Abwägung der verschiedenen beteiligten Interessen nehmen die Interessen des Kindes eine besondere Stellung ein, weil es die schwache Partei in den Familienbeziehungen ist. Diese Sonderstellung ermöglicht es dennoch nicht, die Interessen der anderen beteiligten Parteien nicht auch zu berücksichtigen.
B.11. Indem er bestimmt, dass das Gericht die Klage nur abweist, wenn die Feststellung der Abstammung offensichtlich nicht im Interesse des Kindes ist, erlaubt Artikel 332quinquies § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches es dem Richter, nur eine marginale Prüfung der Interessen des Kindes vorzunehmen, die nicht mit dem Erfordernis von Artikel 22bis der Verfassung in Verbindung mit Artikel 3 Absatz 1 des Ubereinkommens über die Rechte des Kindes, bei der Abwägung der vorliegenden Interessen den Interessen des Kindes eine vorrangige Stellung einzuräumen, vereinbar ist.
B.12. Unter Berücksichtigung des in B.10 Erwähnten ist die Vorabentscheidungsfrage bejahend zu beantworten.
Aus diesen Gründen:
Der Gerichtshof
erkennt für Recht:
Indem er bestimmt, dass das Gericht die Klage nur abweist, wenn die Feststellung der Abstammung « offensichtlich nicht im Interesse des Kindes ist », verstösst Artikel 332quinquies § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches, dahingehend ausgelegt, dass er dem Richter nur eine marginale Prüfung des Interesses des Kindes erlaubt, gegen Artikel 22bis Absatz 4 der Verfassung.
Verkündet in französischer und niederländischer Sprache, gemäss Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, in der öffentlichen Sitzung vom 7. März 2013.
Der Kanzler,
(gez.) P.-Y. Dutilleux
Der vors. Richter,
(gez.) J.-P. Snappe