Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 9 Oktober 2014 (België). RG 145/2014
- Section :
- Jurisprudence
- Source :
- Justel D-20141009-4
- Numéro de rôle :
- 145/2014
Résumé :
Der Gerichtshof erkennt für Recht: Artikel 318 § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches verstößt nicht gegen die Artikel 10, 11 und 22 der Verfassung, an sich oder in Verbindung mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, insofern der Mann, der die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt, die Klage auf Anfechtung der Vaterschaft binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er der Vater des Kindes ist, einreichen muss.
Arrêt :
Der Verfassungsgerichtshof,
zusammengesetzt aus den Präsidenten J. Spreutels und A. Alen, und den Richtern E. De Groot, T. Merckx-Van Goey, P. Nihoul, F. Daoût und T. Giet, unter Assistenz des Kanzlers F. Meersschaut, unter dem Vorsitz des Präsidenten J. Spreutels,
erlässt nach Beratung folgenden Entscheid:
I. Gegenstand der Vorabentscheidungsfragen und Verfahren
a. In seinem Urteil vom 2. Oktober 2013 in Sachen J.G. gegen M.M., R.M. und P.W., dessen Ausfertigung am 11. Oktober 2013 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat das Gericht erster Instanz Namur folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt:
« Verstößt Artikel 318 des Zivilgesetzbuches dadurch, dass er bestimmt, dass die Klage der Person, die die Vaterschaft für sich in Anspruch nimmt, binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er der Vater des Kindes ist, eingereicht werden muss, gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung oder gar gegen andere, überstaatliche Gesetzesbestimmungen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention, indem er die nicht innerhalb der gesetzlich festgelegten Frist eingereichte Klage auf Anfechtung der Vaterschaft zum absoluten Unzulässigkeitsgrund erhebt, ohne dass es dem mit einer solchen Klage befassten Richter möglich ist, zu beurteilen, ob unter Berücksichtigung der vorliegenden Interessen und des Verhaltens der Parteien die biologische Wahrheit nicht mit der offensichtlich vom betreffenden Kind erlebten sozialaffektiven Wirklichkeit zusammentreffen muss? ».
b. In seinem Urteil vom 18. Dezember 2013 in Sachen G.W. gegen N.G. und I.C., dessen Ausfertigung am 10. Januar 2014 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat das Gericht erster Instanz Namur folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt:
« Verstößt Artikel 318 des Zivilgesetzbuches, dadurch, dass er bestimmt, dass die Klage der Person, die die Vaterschaft für sich in Anspruch nimmt, binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er der Vater des Kindes ist, eingereicht werden muss, gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung oder gar gegen andere, überstaatliche Gesetzesbestimmungen, wie die Europäische Menschenrechtskonvention, indem er die nicht innerhalb der gesetzlich festgelegten Frist eingereichte Klage auf Anfechtung der Vaterschaft zum absoluten Unzulässigkeitsgrund erhebt, ohne dass es dem mit einer solchen Klage befassten Richter möglich ist, zu beurteilen, ob unter Berücksichtigung der vorliegenden Interessen und des Verhaltens der Parteien die biologische Wahrheit nicht mit der offensichtlich vom betreffenden Kind erlebten sozialaffektiven Wirklichkeit zusammentreffen muss?
Könnte im Übrigen die Antwort auf diese Frage unterschiedlich sein, ohne zu neuen Diskriminierungen zu führen, zwischen der Situation des Kindes, bei dem die Vaterschaft nicht angefochten wird (wobei die strikte Frist von einem Jahr Anwendung finden würde) und der Situation des Kindes, bei dem die Vaterschaft angefochten wird (wobei in diesem Fall nicht die strikte Frist von einem Jahr, sondern das Ergebnis der DNA-Analyse oder der Blutuntersuchung Anwendung finden würde)? ».
Diese unter den Nummern 5727 und 5805 ins Geschäftsverzeichnis des Gerichtshofes eingetragenen Rechtssachen wurden verbunden.
(...)
III. Rechtliche Würdigung
(...)
B.1.1. Obwohl in den Vorabentscheidungsfragen auf Artikel 318 des Zivilgesetzbuches insgesamt Bezug genommen wird, ist nur Paragraph 2 dieses Artikels betroffen; dieser bestimmt:
« Die Klage der Mutter muss binnen einem Jahr nach der Geburt eingereicht werden. Die Klage des Ehemannes muss binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er nicht der Vater des Kindes ist, diejenige der Person, die die Vaterschaft für sich in Anspruch nimmt, binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er der Vater des Kindes ist, und diejenige des Kindes frühestens an dem Tag, wo es das zwölfte Lebensjahr vollendet hat, und spätestens an dem Tag, wo es das zweiundzwanzigste Lebensjahr vollendet hat, oder binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass der Ehemann nicht sein Vater ist, eingereicht werden.
Wenn der Ehemann verstorben ist, ohne gerichtlich vorgegangen zu sein, und die dafür vorgesehene Frist noch nicht abgelaufen ist, kann seine Vaterschaft binnen einem Jahr nach seinem Tod oder nach der Geburt durch seine Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie angefochten werden.
[...] ».
B.1.2. Die Vaterschaftsvermutung findet ihre Grundlage in Artikel 315 des Zivilgesetzbuches, der bestimmt, dass das Kind, das während der Ehe oder innerhalb von 300 Tagen nach der Auflösung oder Erklärung der Nichtigkeit der Ehe geboren ist, den Ehemann als Vater hat.
B.2.1. In den beiden Rechtssachen wird der Gerichtshof zur Vereinbarkeit von Artikel 318 § 2 des Zivilgesetzbuches mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung, an sich oder in Verbindung mit Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, befragt, « indem er die nicht innerhalb der gesetzlich festgelegten Frist eingereichte Klage auf Anfechtung der Vaterschaft zum absoluten Unzulässigkeitsgrund erhebt, ohne dass es dem mit einer solchen Klage befassten Richter möglich ist, zu beurteilen, ob unter Berücksichtigung der vorliegenden Interessen und des Verhaltens der Parteien die biologische Wahrheit nicht mit der offensichtlich vom betreffenden Kind erlebten sozialaffektiven Wirklichkeit zusammentreffen muss ».
In der Rechtssache Nr. 5805 fragt der vorlegende Richter den Gerichtshof auch, ob die Antwort auf die Frage in der Situation, in der die Vaterschaft bezüglich des Kindes nicht angefochten wird, im Vergleich zu der Situation des Kindes, bei dem die Vaterschaft wohl angefochten wird, unterschiedlich sein könnte.
B.2.2. Aus dem Sachverhalt der Rechtssachen und aus der Begründung der Vorlageentscheidungen geht hervor, dass die Ausgangsverfahren sich auf eine Klage beziehen, die durch den Mann, der die Vaterschaft eines Kindes für sich in Anspruch nimmt und somit die Vaterschaftsvermutung anficht, eingereicht wurde.
Der Gerichtshof beschränkt seine Prüfung auf den Fall, der im zweiten Teil des zweiten Satzes von Artikel 318 § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches erwähnt ist.
B.3. Das Gesetz vom 31. März 1987 hat - wie in seiner Überschrift angegeben wird - verschiedene Gesetzesbestimmungen bezüglich der Abstammung abgeändert.
Laut der Begründung bestand die Absicht des Gesetzes vom 31. März 1987 unter anderem darin, « möglichst nahe an die Wahrheit heranzukommen », d.h. an die biologische Abstammung (Parl. Dok., Senat, 1977-1978, Nr. 305, 1, S. 3). Im Zusammenhang mit der Feststellung der Abstammung väterlicherseits wurde darauf hingewiesen, dass « der Wille, die Regelung der Feststellung der Abstammung möglichst nahe an die Wahrheit herankommen zu lassen, [...] die Eröffnung der Möglichkeiten zur Anfechtung zur Folge haben [musste] » (ebenda, S. 12). Aus denselben Vorarbeiten wird jedoch ersichtlich, dass der Gesetzgeber gleichzeitig den « Frieden in der Familie » hat berücksichtigen und schützen wollen, indem er nötigenfalls die Suche nach der biologischen Wahrheit gedämpft hat (ebenda, S. 15). Er hat sich dafür entschieden, nicht vom Lehrsatz « pater is est quem nuptiae demonstrant » abzuweichen (ebenda, S. 11).
Damals konnte allerdings die Vaterschaftsvermutung gemäß dem damaligen Artikel 332 des Zivilgesetzbuches nur vom Ehemann, von der Mutter und vom Kind angefochten werden.
B.4.1. Das Abstammungsrecht war anschließend Gegenstand einer gründlichen Reform durch die Annahme des Gesetzes vom 1. Juli 2006 « zur Abänderung der Bestimmungen des Zivilgesetzbuches mit Bezug auf die Feststellung der Abstammung und deren Wirkungen ».
Aus den Vorarbeiten geht hervor, dass der Gesetzgeber eine Reform jener Texte vornehmen wollte, die durch den Gerichtshof diesbezüglich bemängelt worden waren, und der soziologischen Entwicklung Rechnung tragen wollte, indem er die Abstammung innerhalb und außerhalb der Ehe annäherte:
« Durch das Gesetz von 1987 wurden praktisch alle Unterschiede hinsichtlich der Auswirkungen beseitigt, doch es wurde ein Mechanismus der Vaterschaftsvermutung des Ehemanns beibehalten, der zu schockierenden Folgen für die Feststellung der Abstammung führt. [...]
Dieser Gesetzesvorschlag bezweckt also ebenfalls, unter Beibehaltung der Vaterschaftsvermutung des Ehemanns dieser eine fast gleichwertige Auswirkung wie einer Anerkennung zu verleihen » (Parl. Dok., Kammer, 2003-2004, DOC 51-0597/001, S. 6).
« Schließlich muss die Klage innerhalb einer Frist von einem Jahr eingeleitet werden (ab der Entdeckung der Geburt oder ab dem Jahr, in dem die Tatsache vom Ehemann oder von demjenigen, der das Kind anerkennt, wenn er nicht der Vater des Kindes ist, entdeckt wird) » (Parl. Dok., Kammer, 2005-2006, DOC 51-0597/037, S. 5).
B.4.2. Infolge dieser Gesetzesänderung kann die Vaterschaftsvermutung nunmehr von der Mutter, dem Kind, dem Mann, hinsichtlich dessen die Abstammung feststeht, und von der Person, die die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt, angefochten werden.
Die zugrunde liegende Überlegung des Gesetzgebers war die Sorge um die Lage des biologischen Vaters des Kindes einer verheirateten Frau, der keinerlei Recht hatte, die Vaterschaft, die in Bezug auf den Ehemann dieser Frau feststand, anzufechten. Daher war der biologische Vater vollständig von der Haltung abhängig, die die Mutter einnahm. In den Vorarbeiten wurde diesbezüglich angeführt:
« Es wird beabsichtigt, einen Zustand zu beenden, der durch die Autoren des Gesetzesvorschlags als schockierend empfunden wird, nämlich der Umstand, dass der biologische Vater des Kindes einer verheirateten Frau die Vaterschaft des Ehemannes nicht anfechten darf. Aufgrund der geltenden Texte besitzt der biologische Vater keinerlei Widerspruchsmöglichkeit und hängt er ab von dem, was die Mutter diesbezüglich tut » (Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/024, S. 59).
B.4.3.1. In einem ersten Gesetzesvorschlag war vorgesehen, die Vaterschaft, die auf der Grundlage der Vaterschaftsregel feststeht, anfechten zu lassen « durch jeden Interessehabenden », nach dem Beispiel der Anfechtung der väterlichen Anerkennung (Parl. Dok., Kammer, 2003-2004, DOC 51-0597/001, S. 14, und Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/024, S. 59). Damit war an erster Stelle der biologische Vater des Kindes einer verheirateten Frau gemeint (Parl. Dok., Kammer, 2003-2004, DOC 51-0597/001, S. 10).
Dieser Vorschlag, « jedem Interessehabenden » die Möglichkeit zu bieten, eine auf einer Ehe basierende Vaterschaft anzufechten, wurde jedoch als unvernünftig angesehen, weil man befürchtete, die Ruhe der ehelichen Familie allzu sehr zu stören (Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/024, S. 61).
B.4.3.2. Schließlich wurde beschlossen, das Anfechtungsrecht auszudehnen auf « die Person, die die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt », während der Besitz des Standes als Grund der Unzulässigkeit dieser Klagen eingeführt wurde (Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/026, Abänderungsantrag Nr. 112, und Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/029, Sub-Abänderungsantrag Nr. 134).
Der erzielte Kompromiss bezweckte einerseits, das Klagerecht auf die tatsächlich Betroffenen zu begrenzen, nämlich den Ehemann, die Mutter, das Kind und den Mann, der die Vaterschaft für sich in Anspruch nimmt, und andererseits den Familienkern, in dem das Kind aufwächst, soweit wie möglich zu schützen, indem der Besitz des Standes des Kindes als Hindernis für dieses Klagerecht vorausgesetzt wurde und strenge Fristen für das Klagerecht vorgesehen wurden (Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/026, S. 6; Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/032, S. 31).
B.4.4.1. Bezüglich der Fristenregelung für den Mann, der die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt, wurde vorgeschlagen, das neu eingeführte Klagerecht « binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Geburt » ausüben zu lassen (Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/026; Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/029; Parl. Dok., Kammer, 2004-2005, DOC 51-0597/033, S. 8).
An dem vorerwähnten Gesetzesvorschlag wurde Kritik geübt, weil dadurch in allen Fällen der väterlichen Abstammung innerhalb der Ehe die Rechtsunsicherheit und die Unruhe in der Familie durch die Drohung einer Vaterschaftsanfechtung unnötig verlängert würden.
B.4.4.2. Schließlich wurde beschlossen, die Frist auf ein Jahr « nach der Entdeckung der Tatsache, dass [der Mann, der die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt,] der Vater des Kindes ist » festzulegen (Artikel 318 § 2 des Zivilgesetzbuches).
B.5. Der Gerichtshof muss den zweiten Teil des zweiten Satzes von Artikel 318 § 1 des Zivilgesetzbuches anhand von Artikel 22 der Verfassung in Verbindung mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention prüfen.
Artikel 22 der Verfassung bestimmt:
« Jeder hat ein Recht auf Achtung vor seinem Privat- und Familienleben, außer in den Fällen und unter den Bedingungen, die durch Gesetz festgelegt sind.
Das Gesetz, das Dekret oder die in Artikel 134 erwähnte Regel gewährleistet den Schutz dieses Rechtes ».
Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention bestimmt:
« (1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer ».
Aus den Vorarbeiten zu Artikel 22 der Verfassung geht hervor, dass der Verfassungsgeber eine möglichst weitgehende Übereinstimmung mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention angestrebt hat (Parl. Dok., Kammer, 1992-1993, Nr. 997/5, S. 2).
B.6. Das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, so wie es durch die vorerwähnten Bestimmungen gewährleistet wird, dient im Wesentlichen dazu, die Personen gegen Einmischungen in ihr Privatleben und ihr Familienleben zu schützen.
Artikel 22 Absatz 1 der Verfassung und Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention schließen eine behördliche Einmischung in das Recht auf Achtung des Privatlebens nicht aus, verlangen jedoch, diese Einmischung in einer ausreichend präzisen Gesetzesbestimmung vorgesehen ist, einem zwingenden gesellschaftlichen Bedarf entspricht und im Verhältnis zu der damit angestrebten gesetzmäßigen Zielsetzung steht. Diese Bestimmungen beinhalten außerdem die positive Verpflichtung für die Behörden, Maßnahmen zu ergreifen, die eine tatsächliche Achtung des Privat- und Familienlebens gewährleisten, selbst in der Sphäre der gegenseitigen Beziehungen zwischen Einzelpersonen (EuGHMR, 27. Oktober 1994, Kroon u.a. gegen Niederlande, § 31; EuGHMR, Große Kammer, 12. Oktober 2013, Söderman gegen Schweden, § 78; 3. April 2014, Konstantinidis gegen Griechenland, § 42).
B.7. Die Verfahren bezüglich der Feststellung oder Anfechtung der Abstammung väterlicherseits wirken sich auf das Privatleben des Klägers aus, weil der Sachbereich der Abstammung bedeutende Aspekte der persönlichen Identität beinhaltet (EuGHMR, 28. November 1984, Rasmussen gegen Dänemark, § 33; 24. November 2005, Shofman gegen Russland, § 30; 12. Januar 2006, Mizzi gegen Malta, § 102; 16. Juni 2011, Pascaud gegen Frankreich, §§ 48-49; 21. Juni 2011, Krushovic gegen Kroatien, § 20; 22. März 2012, Ahrens gegen Deutschland, § 60; 12. Februar 2013, Krisztiàn Barnabàs Tóth gegen Ungarn, § 28).
Die fragliche Regelung zur Anfechtung der Vaterschaftsvermutung gehört daher zum Anwendungsbereich von Artikel 22 der Verfassung und von Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
B.8.1. Der Gesetzgeber verfügt über einen Ermessensspielraum, um bei der Ausarbeitung einer Gesetzesregelung, die eine behördliche Einmischung in das Privatleben beinhaltet, ein faires Gleichgewicht zwischen den gegenseitigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt zu berücksichtigen (EuGHMR, 26. Mai 1994, Keegan gegen Irland, § 49; 27. Oktober 1994, Kroon u.a. gegen Niederlande, § 31; 2. Juni 2005, Znamenskaya gegen Russland, § 28; 24. November 2005, Shofman gegen Russland, § 34; 20. Dezember 2007, Phinikaridou gegen Zypern, §§ 51 bis 53; 25. Februar 2014, Ostace gegen Rumänien, § 33).
Dieser Ermessensspielraum des Gesetzgebers ist jedoch nicht unbegrenzt; zur Beurteilung dessen, ob eine Gesetzesregelung mit dem Recht auf Achtung des Privatlebens vereinbar ist, muss geprüft werden, ob der Gesetzgeber ein faires Gleichgewicht zwischen allen beteiligten Rechten und Interessen gefunden hat. Dies setzt voraus, dass der Gesetzgeber nicht nur zwischen den Interessen des Einzelnen und denjenigen der Gesellschaft insgesamt abwägt, sondern auch zwischen den sich widersprechenden Interessen der betroffenen Personen (EuGHMR, 6. Juli 2010, Backlund gegen Finnland, § 46; 15. Januar 2013, Laakso gegen Finnland, § 46; 29. Januar 2013, Röman gegen Finnland, § 51).
Bei der Ausarbeitung einer gesetzlichen Regelung bezüglich der Abstammung muss der Gesetzgeber den zuständigen Behörden grundsätzlich die Möglichkeit bieten, in concreto zwischen den Interessen der verschiedenen betroffenen Personen abzuwägen, dies bei Gefahr, andernfalls eine Maßnahme zu ergreifen, die nicht im Verhältnis zu den angestrebten gesetzlichen Zielen stehen würde.
Sowohl Artikel 22bis Absatz 4 der Verfassung als auch Artikel 3 Absatz 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes verpflichten die Gerichte dazu, in Verfahren, die sich auf das Kind beziehen, das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat verdeutlicht, dass bei der Abwägung der jeweiligen Interessen das Wohl des Kindes Vorrang haben muss (EuGHMR, 5. November 2002, Yousef gegen Niederlande, § 73; 26. Juni 2003, Maire gegen Portugal, §§ 71 und 77; 8. Juli 2003, Sommerfeld gegen Deutschland, §§ 64 und 66; 28. Juni 2007, Wagner und J.M.W.L. gegen Luxemburg, § 119; 6. Juli 2010, Neulinger und Shuruk gegen Schweiz, § 135; 22. März 2012, Ahrens gegen Deutschland, § 63).
Wenngleich das Wohl des Kindes vorrangig zu berücksichtigen ist, gilt es nicht absolut. Bei der Abwägung der verschiedenen betroffenen Interessen nimmt das Wohl des Kindes eine besondere Stellung ein durch den Umstand, dass es in der Familienbeziehung die schwache Partei ist. Aus dieser besonderen Stellung ergibt sich jedoch nicht, dass die Interessen der anderen betroffenen Parteien nicht berücksichtigt werden könnten.
B.8.2. Insbesondere bezüglich der Fristen im Abstammungsrecht geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass die Einführung von Fristen an sich nicht im Widerspruch zu Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention steht; nur die Beschaffenheit einer solchen Frist kann als im Widerspruch zum Recht auf Achtung des Privatlebens stehend angesehen werden (EuGHMR, 6. Juli 2010, Backlund gegen Finnland, § 45; 15. Januar 2013, Laakso gegen Finnland, § 45; 29. Januar 2013, Röman gegen Finnland, § 50; 3. April 2014, Konstantinidis gegen Griechenland, § 46).
B.8.3. Außerdem wird durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angenommen, dass der Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers größer ist, wenn bei den Mitgliedstaaten des Europarates kein Konsens bezüglich der betroffenen Interessen und ebenfalls nicht bezüglich der Weise, in der diese Interessen zu schützen sind, besteht (EuGHMR, 22. März 2012, Ahrens gegen Deutschland, § 68). Außerdem hebt der Europäische Gerichtshof hervor, dass es nicht seine Aufgabe ist, an Stelle der nationalen Behörden Entscheidungen zu treffen. (EuGHMR, 15. Januar 2013, Laakso gegen Finnland, § 41).
B.9.1. Die Ruhe der Familien und die Rechtssicherheit der Verwandtschaftsverhältnisse einerseits und das Interesse des Kindes andererseits sind legitime Ziele, von denen der Gesetzgeber ausgehen kann, um eine unbegrenzte Möglichkeit zur Anfechtung der Vaterschaft zu verhindern, so dass der Gesetzgeber Ausschlussfristen einführen konnte (EuGHMR, 28. November 1984, Rasmussen gegen Dänemark, § 41; 12. Januar 2006, Mizzi gegen Malta, § 88; 6. Juli 2010, Backlund gegen Finnland, § 45; 15. Januar 2013, Laakso gegen Finnland, § 45; 29. Januar 2013, Röman gegen Finnland, § 50).
B.9.2. Aus diesem Blickwinkel ist es sachdienlich, der biologischen Realität nicht a priori den Vorrang gegenüber der sozialaffektiven Realität der Vaterschaft zu gewähren.
B.10. Daher ist es vernünftig gerechtfertigt, dass der Mann, der die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt, nur über eine kurze Frist verfügt, um die Vaterschaftsvermutung des Ehemannes der Mutter anzufechten.
B.11. Die in der Rechtssache Nr. 5727 gestellte Vorabentscheidungsfrage und die erste in der Rechtssache Nr. 5805 gestellte Vorabentscheidungsfrage sind verneinend zu beantworten.
B.12. Der Umstand, dass die biologische Vaterschaft dessen, der die Vaterschaft des Kindes für sich in Anspruch nimmt, nicht angefochten wird, ändert nichts an der in B.10 erwähnten Feststellung. Aus den gleichen wie den in B.3 bis B.10 dargelegten Gründen ist die zweite in der Rechtssache Nr. 5805 gestellte Vorabentscheidungsfrage verneinend zu beantworten.
Aus diesen Gründen:
Der Gerichtshof
erkennt für Recht:
Artikel 318 § 2 Absatz 1 des Zivilgesetzbuches verstößt nicht gegen die Artikel 10, 11 und 22 der Verfassung, an sich oder in Verbindung mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, insofern der Mann, der die Vaterschaft hinsichtlich des Kindes für sich in Anspruch nimmt, die Klage auf Anfechtung der Vaterschaft binnen einem Jahr nach der Entdeckung der Tatsache, dass er der Vater des Kindes ist, einreichen muss.
Erlassen in französischer und niederländischer Sprache, gemäß Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, am 9. Oktober 2014.
Der Kanzler,
(gez.) F. Meersschaut
Der Präsident,
(gez.) J. Spreutels