Grondwettelijk Hof (Arbitragehof): Arrest aus 20 September 2012 (België). RG 113/2012
- Section :
- Jurisprudence
- Source :
- Justel D-20120920-4
- Numéro de rôle :
- 113/2012
Résumé :
Der Gerichtshof erkennt für Recht: Artikel 174 Absatz 3 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung, eingefügt durch Artikel 47 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen im Bereich Gesundheitspflege, verstößt gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, insofern er es den Versicherungsträgern erlaubt, während eines Jahres die Invaliditätsleistungen zurückzufordern, die aufgrund eines auf sie zurückzuführenden Irrtums ihren Angeschlossenen zu Unrecht ausgezahlt wurden, soweit der Sozialversicherte nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er kein Anrecht oder kein Anrecht mehr auf die gezahlte Leistung hatte.
Arrêt :
Der Verfassungsgerichtshof,
zusammengesetzt aus den Präsidenten M. Bossuyt und R. Henneuse, und den Richtern E. De Groot, L. Lavrysen, J.-P. Moerman, P. Nihoul und F. Daoût, unter Assistenz des Kanzlers P.-Y. Dutilleux, unter dem Vorsitz des Präsidenten M. Bossuyt,
verkündet nach Beratung folgenden Entscheid:
I. Gegenstand der Vorabentscheidungsfragen und Verfahren
a. In seinem Entscheid vom 9. Dezember 2011 in Sachen des Landesbundes der neutralen Krankenkassen gegen E.M., dessen Ausfertigung am 16. Dezember 2011 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat der Arbeitsgerichtshof Gent folgende Vorabentscheidungsfragen gestellt:
« Verstösst Artikel 174 Absatz 3 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung, eingeführt durch Artikel 47 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen im Bereich Gesundheitspflege, gegen die Artikel 10, 11 und 23 der Verfassung, sowie gegen die aus Artikel 23 der Verfassung sich ergebende Stillhalteverpflichtung, indem er es den Versicherungsträgern ermöglicht, die unrechtmässigen Zahlungen zurückzufordern, die auf einen Rechtsirrtum oder einen materiellen Irrtum des Versicherungsträgers zurückzuführen sind, und wenn der irrtümlicherweise kreditierte Versicherte nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er - ganz oder teilweise - kein Anrecht oder kein Anrecht mehr auf die gezahlte Leistung hatte, während Artikel 17 Absatz 2 des Gesetzes vom 11. April 1995 zur Einführung der ' Charta ' der Sozialversicherten, der auf alle Einrichtungen für soziale Sicherheit, zu denen die Versicherungsträger gehören, Anwendung findet, jeder Rückforderung von Beträgen, die die Sozialversicherten zu Unrecht erhalten haben, im Wege steht, wenn der Irrtum, der dem berichtigenden Beschluss zugrunde liegt, der Einrichtung für soziale Sicherheit zuzuschreiben ist und der Sozialversicherte gemäss dem vorerwähnten Artikel 17 Absatz 3 nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er kein Anrecht mehr auf den Gesamtbetrag der ausgezahlten Leistungen hatte? ».
b. In seinem Urteil vom 9. März 2012 in Sachen L.T. gegen den Landesbund der christlichen Krankenkassen, dessen Ausfertigung am 13. März 2012 in der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat das Arbeitsgericht Tongern folgende Vorabentscheidungsfrage gestellt:
« Verstösst Artikel 174 Absatz 3 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung, eingeführt durch Artikel 47 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen im Bereich Gesundheitspflege, gegen die Artikel 10, 11 und 23 der Verfassung, sowie gegen die aus Artikel 23 der Verfassung sich ergebende Stillhalteverpflichtung, indem er es den Versicherungsträgern ermöglicht, die unrechtmässigen Zahlungen zurückzufordern, die auf einen Rechtsirrtum oder einen materiellen Irrtum des Versicherungsträgers zurückzuführen sind, und wenn der irrtümlicherweise kreditierte Versicherte nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er - ganz oder teilweise - kein Anrecht oder kein Anrecht mehr auf die gezahlte Leistung hatte, während Artikel 17 Absatz 2 des Gesetzes vom 11. April 1995 zur Einführung der ' Charta ' der Sozialversicherten, der auf alle Einrichtungen für soziale Sicherheit, zu denen die Versicherungsträger gehören, Anwendung findet, jeder Rückforderung von Beträgen, die die Sozialversicherten zu Unrecht erhalten haben, im Wege steht, wenn der Irrtum, der dem berichtigenden Beschluss zugrunde liegt, der Einrichtung für soziale Sicherheit zuzuschreiben ist und der Sozialversicherte gemäss dem vorerwähnten Artikel 17 Absatz 3 nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er kein Anrecht mehr auf den Gesamtbetrag der ausgezahlten Leistungen hatte? ».
Diese unter den Nummern 5271 und 5362 ins Geschäftsverzeichnis des Gerichtshofes eingetragenen Rechtssachen wurden verbunden.
(...)
III. Rechtliche Würdigung
(...)
B.1.1. Artikel 174 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung bestimmt:
« [...]
5. Ansprüche auf Rückforderung des Wertes der unrechtmässig zu Lasten der Entschädigungsversicherung bewilligten Leistungen verjähren in zwei Jahren ab Ende des Monats, im Laufe dessen die Zahlung dieser Leistungen erfolgt ist.
[...]
Von den in den Nummern 1, 2, 3 und 4 erwähnten Verjährungen darf nicht abgesehen werden.
Die in den Nummern 5, 6 und 7 vorgesehenen Verjährungen werden auf ein Jahr festgelegt bei unrechtmässigen Zahlungen, die auf einen Rechtsirrtum oder einen materiellen Irrtum des Versicherungsträgers zurückzuführen sind, und wenn der irrtümlicherweise kreditierte Versicherte nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er - ganz oder teilweise - kein Anrecht oder kein Anrecht mehr auf die gezahlte Leistung hatte.
[...] ».
Absatz 3 dieses Artikels wurde durch Artikel 47 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen im Bereich Gesundheitspflege eingefügt. Es handelt sich dabei um die fragliche Bestimmung.
B.1.2. Artikel 17 des Gesetzes vom 11. April 1995 zur Einführung der « Charta » der Sozialversicherten bestimmt:
« Wird festgestellt, dass der Beschluss einen rechtlichen oder materiellen Irrtum aufweist, fasst die Einrichtung für soziale Sicherheit auf eigene Initiative einen neuen Beschluss, der an dem Datum wirksam wird, an dem der berichtigte Beschluss hätte wirksam werden müssen, und dies unbeschadet der Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen in Sachen Verjährung.
Unbeschadet des Artikels 18 wird der neue Beschluss im Fall eines der Einrichtung für soziale Sicherheit zuzuschreibenden Irrtums am ersten Tag des Monats wirksam, der der Notifizierung folgt, wenn das Anrecht auf die soziale Leistung geringer ist als das ursprünglich gewährte Anrecht.
Vorhergehender Absatz findet keine Anwendung, wenn der Sozialversicherte im Sinne des Königlichen Erlasses vom 31. Mai 1933 über die in Sachen Zuschüsse, Entschädigungen und Beihilfen abzugebenden Erklärungen weiss oder wissen musste, dass er kein Anrecht oder kein Anrecht mehr auf den Gesamtbetrag einer Leistung hat ».
B.1.3. Artikel 18 desselben Gesetzes bestimmt:
« Unbeschadet der Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen in Sachen Verjährung kann die Einrichtung für soziale Sicherheit innerhalb der Frist für das Einreichen einer Beschwerde bei dem zuständigen Rechtsprechungsorgan oder, wenn bereits eine Beschwerde eingereicht worden ist, bis zur Schliessung der Verhandlungen ihren Beschluss rückgängig machen und einen neuen Beschluss fassen, wenn
1. an dem Tag, an dem die Leistung eingesetzt hat, das Anrecht durch eine Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung abgeändert worden ist;
2. ein neuer Umstand oder neues Beweismaterial, die Auswirkungen auf die Anrechte des Antragstellers haben, im Laufe des Verfahrens geltend gemacht werden;
3. festgestellt wird, dass der administrative Beschluss eine Unregelmässigkeit oder einen materiellen Irrtum aufweist ».
B.1.4. Artikel 18bis desselben Gesetzes bestimmt:
« Der König bestimmt die Regelungen der sozialen Sicherheit oder die Teile davon, für die ein Beschluss über dieselben Rechte, der nach einer Untersuchung der Rechtmässigkeit der ausgezahlten Leistungen gefasst wurde, für die Anwendung von Artikel 17 und 18 nicht als neuer Beschluss angesehen wird ».
B.2. Die vorlegenden Rechtsprechungsorgane befragen den Gerichtshof zur Vereinbarkeit der fraglichen Bestimmung mit den Artikeln 10, 11 und 23 der Verfassung, insofern sie einen Behandlungsunterschied unter Sozialversicherten einführen würde.
In Anwendung von Artikel 174 Absatz 3 des fraglichen Gesetzes und in Abweichung von der zweijährigen Frist, die Absatz 1 dieses Artikels in der Hauptsache vorsieht, kann von einem Sozialversicherten, der infolge eines Irrtums seitens des Versicherungsträgers zu Unrecht Leistungen der Entschädigungsversicherung erhalten hat, während eines Jahres die Rückerstattung des unrechtmässig gezahlten Betrags verlangt werden. Aufgrund von Artikel 17 der Charta der Sozialversicherten muss derjenige, der zu Unrecht ausgezahlte Leistungen infolge eines Irrtums der Einrichtung, die sie ausgezahlt hat, erhalten hat, hingegen nichts zurückerstatten, nachdem die Frist für die Klageerhebung gegen den vom Versicherungsträger irrtümlicherweise gefassten Beschluss abgelaufen ist, ausser wenn dieser Sozialversicherte wusste oder wissen musste, dass er kein Anrecht oder kein Anrecht mehr auf den Gesamtbetrag der Leistung hatte.
B.3.1. Durch die Einführung der « Charta » der Sozialversicherten wollte der Gesetzgeber einen besseren Rechtsschutz der Sozialversicherten erreichen. Daher sollte die Charta folgende Erwartungen erfüllen: « Rechtssicherheit, Zugänglichkeit, Transparenz, Schnelligkeit und Genauigkeit, und schliesslich Vereinfachung der Verwaltungsauflagen » (Parl. Dok., Kammer, Sondersitzungsperiode 1991-1992, Nr. 353/1, SS. 1-2). Ein Abänderungsantrag der Regierung (Parl. Dok., Kammer, Sondersitzungsperiode 1991-1992, Nr. 353/2, S. 10) zur Streichung von Artikel 21 (nunmehr Artikel 17) wurde nicht angenommen, weil die Kommission für Soziales den Standpunkt vertrat, « diese Bestimmung stärkt in erheblichem Masse die Rechtssicherheit der Sozialversicherten und muss bestehen bleiben » (Parl. Dok., Kammer, Sondersitzungsperiode 1991-1992, Nr. 353/5, S. 19).
B.3.2. Es wurde jedoch festgestellt, dass Artikel 17 Absatz 2 des Gesetzes vom 11. April 1995 bedeutende Auswirkungen auf den Haushalt hatte:
« Insbesondere im Rahmen der Arbeitslosenversicherung und der Gesundheitspflege- und Entschädigungsversicherung würden diese neuen Bestimmungen zum Verlust von Milliarden Franken zu viel bezahlter Leistungen führen, die nicht mehr zurückgefordert werden können » (Parl. Dok., Kammer, 1996-1997, Nr. 907/1, S. 16).
B.3.3. Nichtsdestoweniger wurde das Prinzip von Artikel 17 der Charta in verschiedenen Bereichen der sozialen Sicherheit eingeführt. Dies gilt unter anderem für die Rechtsvorschriften über Arbeitsunfälle (Artikel 60bis des Gesetzes vom 10. April 1971) sowie über Arbeitslosigkeit (Artikel 149 § 1 des königlichen Erlasses vom 25. November 1991 zur Regelung der Arbeitslosigkeit).
B.4.1. Zur Bestimmung seiner Politik im wirtschaftlich-sozialen Bereich verfügt der Gesetzgeber über eine weitgehende Ermessensbefugnis.
Nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte muss eine strengere Kontrolle der Verhältnismässigkeit vorgenommen werden, wenn mit der fraglichen Bestimmung bezweckt wird, zum Nachteil einer Einzelperson einen Irrtum wiedergutzumachen, den Behörden selbst begangen haben, ohne dass der Person, deren Rechte durch diese Bestimmung beeinträchtigt werden, irgendein Fehler zur Last gelegt werden kann (EuGHMR, 15. September 2009, Moskal gegen Polen, § 73). Ausserdem hat dieser Gerichtshof wie folgt geurteilt:
« [...] die Behörden dürften nicht daran gehindert werden, Irrtümer in der Gewährung von Leistungen zu berichtigen, selbst wenn die Irrtümer auf ihre eigene Nachlässigkeit zurückzuführen sind. Anders darüber zu urteilen, würde im Widerspruch zur Theorie der ungerechtfertigten Bereicherung stehen, wäre unredlich gegenüber anderen, zum Fonds der sozialen Sicherheit beitragenden Personen und würde der Billigung einer unrechtmässigen Gewährung begrenzter öffentlicher Mittel gleichkommen. Der Gerichtshof hat jedoch angemerkt, dass der vorerwähnte allgemeine Grundsatz nicht in einer Situation gelten kann, in der die betroffene Person möglicherweise eine übermässige Last infolge der Massnahme, mit der ihr ein Vorteil entzogen würde, tragen müsste » (EuGHMR, 14. Februar 2012, B. gegen Vereinigtes Königreich, § 60).
B.4.2. Die fragliche Bestimmung wurde am 19. Dezember 2008 ausgefertigt, d.h. nach Artikel 17 der Charta der Sozialversicherten. Solange diese Charta unverändert bleibt, führt eine Gesetzesänderung, die nach der Ausfertigung der Charta erfolgt und eine auf einen Bereich der sozialen Sicherheit anwendbare Regelung einführt, welche für den Versicherten weniger günstig ist als diejenige, die allgemein in der Charta enthalten ist, unter den Sozialversicherten einen Behandlungsunterschied herbei, der nur dann als mit den Artikeln 10 und 11 der Verfassung vereinbar angesehen werden kann, wenn eine relevante, spezifische Rechtfertigung vorliegt.
B.5. In den Vorarbeiten zu Artikel 47 des vorerwähnten Gesetzes vom 19. Dezember 2008 wurde die Entscheidung des Gesetzgebers wie folgt begründet:
« Mit der Einfügung dieser Bestimmung wird bezweckt, eine zeitlich begrenzte Rückforderung von Leistungen zu ermöglichen, die zu Unrecht einem gutgläubigen Sozialversicherten gewährt worden sind, falls der Versicherungsträger bei der Auszahlung der besagten Leistungen einen rechtlichen Fehler oder einen materiellen Irrtum begangen hat. Eine Rückwirkung von einem Jahr wird der Entscheidung zur Berichtigung des ursprünglichen Irrtums verliehen.
Mit dieser Anpassung wird der bestehenden Rechtsunsicherheit bezüglich der Entscheidung zur Rückforderung von zu Unrecht gezahlten Leistungen im Falle eines Irrtums einer öffentlichen oder privaten Einrichtung für soziale Sicherheit infolge des Entscheids Nr. 196/2005 des Schiedshofes vom 21. Dezember 2005 ein Ende gesetzt.
Diese Bestimmung ist ebenfalls durch die komplizierte Beschaffenheit der Akten im Sektor der Gesundheitspflege- und Entschädigungsversicherung gerechtfertigt, nämlich die Anzahl und die Beschaffenheit der faktischen und rechtlichen Elemente, die für die Gewährung der Leistungen und die Bestimmung ihres genauen Betrags zu berücksichtigen sind, die Verpflichtung zur Auszahlung der Leistungen innerhalb einer relativ kurzen Frist und schliesslich die Haushalts- und Finanzkosten im Falle des Ausbleibens der Rückforderung vom Sozialversicherten, da diese Kosten durch die Versicherungsträger übernommen werden müssten (wenig realistische Hypothese, falls diese Kosten durch die Letztgenannten vollständig übernommen werden müssten), oder durch die Regelung (und schliesslich durch die Globalverwaltung).
Schliesslich gleicht diese Bestimmung derjenigen, die in die spezifische Regelung durch den Sektor des Jahresurlaubs seit dem 1. Januar 2006 und durch den Sektor der Familienbeihilfen seit dem 1. Oktober 2006 eingeführt worden ist » (Parl. Dok., Kammer, 2008-2009, DOC 52-1491/001 und 52-1492/001, SS. 32-33).
B.6.1. Die Komplexität der Verwaltungsaufgaben der Versicherungsträger könnte keine Rechtfertigung dafür bieten, dass der Empfänger zu Unrecht ausgezahlter Leistungen, welche dieser infolge eines Irrtums des sie auszahlenden Versicherungsträgers erhalten hat, wobei er sich dessen nicht bewusst sein konnte, während eines Jahres dazu gehalten ist, die zu Unrecht erhaltenen Beträge zurückzuzahlen, während die Empfänger anderer Sozialleistungen, die unter den gleichen Umständen zu Unrecht ausgezahlt wurden, nicht dazu gehalten sind, sie zurückzuzahlen.
In der ins Auge gefassten Hypothese hat der Empfänger nämlich keinen Irrtum begangen, so dass der Versicherungsträger über dessen rechtliche und materielle Lage richtig informiert sein müsste. Auf die Verwaltungsschwierigkeiten infolge der komplexen Behandlung der Fälle der Arbeitsunfähigkeit kann in dieser Situation die unrechtmässige Zahlung also nicht zurückzuführen sein. Sie können es demzufolge nicht rechtfertigen, dass die Konsequenzen eines Irrtums des Schuldners der Leistungen bei deren Gewährung dem Sozialversicherten aufgebürdet werden.
Da übrigens die Rückerstattung unrechtmässig gezahlter Beträge die Regel darstellt, ist die in der fraglichen Bestimmung enthaltene Wortfolge « nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er [...] kein Anrecht oder kein Anrecht mehr [...] hatte » in engem Sinne auszulegen.
B.6.2. Ausserdem sind im Gegensatz zum Urlaubsgeld, das den Gegenstand des Entscheids Nr. 39/2008 vom 4. März 2008 bildete, in dem der Gerichtshof es nicht für im Widerspruch zu den Artikeln 10 und 11 der Verfassung stehend gehalten hat, die Rückforderung einer unrechtmässigen Zahlung infolge eines Irrtums der auszahlenden Einrichtung zu erlauben, die Leistungen wegen Arbeitsunfähigkeit ein Ersatzeinkommen, das monatlich ausgezahlt wird, so dass sie in den meisten Fällen den grössten Teil des Monatsbudgets des Sozialversicherten, der ein Anrecht darauf hat, darstellen. Wenn ein Jahr lang die Rückforderung von Beträgen erlaubt wird, die infolge eines Irrtums der auszahlenden Einrichtung ausgezahlt wurden, würde dies nämlich für die meisten Berechtigten, die sich in dieser Situation befinden und denen keinerlei Fehler oder Nachlässigkeit vorgeworfen werden kann, unverhältnismässige Folgen nach sich ziehen.
B.6.3. Schliesslich kann der Umstand, dass im Sektor der Gesundheitspflege- und Entschädigungsversicherung die meisten Beschlüsse durch private Einrichtungen gefasst werden, die an der sozialen Sicherheit mitarbeiten, nämlich die Krankenkassen, ebenfalls nicht die ungleiche Behandlung rechtfertigen. Die Tatsache, dass die Beschlüsse im Nachhinein durch das Landesinstitut für Kranken- und Invalidenversicherung (LIKIV) kontrolliert werden müssen und dass diese Kontrolle materiell unmöglich innerhalb einer Frist von drei Monaten erfolgen kann, die dem Zeitraum entspricht, in dem Klage beim Arbeitsgericht eingereicht werden und die Einrichtung ihren Beschluss revidieren kann, kann diesen Behandlungsunterschied ebenfalls nicht rechtfertigen. Die Organisation der privaten und öffentlichen Einrichtungen, die an diesem besonderen Sektor der sozialen Sicherheit beteiligt sind, sowie infolgedessen die komplizierte Beschaffenheit und die langsame Bearbeitung der Akten können nämlich keine vernünftige Rechtfertigung dafür liefern, dass den Berechtigten die finanziellen Folgen eines durch eine Einrichtung begangenen Irrtums auferlegt werden.
B.6.4. Wie der Ministerrat anmerkt, führt das Verbot, vom Sozialversicherten die Leistungen zurückzufordern, die er zu Unrecht erhalten hat, bei dem derzeitigen Stand der Gesetzgebung zwar dazu, dass dem LIKIV die finanziellen Folgen eines Irrtums auferlegt werden, der auf die Versicherungsträger zurückzuführen ist (vgl. in diesem Zusammenhang, Kass., 22. Dezember 2008, Arr. Cass., 2008, Nr. 749).
Es obliegt jedoch dem Gesetzgeber und dem König, gegebenenfalls die relevante Regelung zu ändern, um die finanziellen Folgen eines solchen Irrtums ganz oder teilweise den Versicherungsträgern aufzuerlegen, die für die zu Unrecht erfolgte Zahlung der Leistungen an den Sozialversicherten verantwortlich sind, oder die Regeln der Kontrolle der Versicherungsträger zu verschärfen.
B.7. Insofern in den Vorabentscheidungsfragen ein Verstoss gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung geltend gemacht wird, sind sie bejahend zu beantworten.
B.8. Demzufolge braucht die fragliche Bestimmung nicht auf ihre Vereinbarkeit mit Artikel 23 der Verfassung hin geprüft zu werden.
Aus diesen Gründen:
Der Gerichtshof
erkennt für Recht:
Artikel 174 Absatz 3 des am 14. Juli 1994 koordinierten Gesetzes über die Gesundheitspflege- und Entschädigungspflichtversicherung, eingefügt durch Artikel 47 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 zur Festlegung verschiedener Bestimmungen im Bereich Gesundheitspflege, verstösst gegen die Artikel 10 und 11 der Verfassung, insofern er es den Versicherungsträgern erlaubt, während eines Jahres die Invaliditätsleistungen zurückzufordern, die aufgrund eines auf sie zurückzuführenden Irrtums ihren Angeschlossenen zu Unrecht ausgezahlt wurden, soweit der Sozialversicherte nicht wusste oder nicht wissen musste, dass er kein Anrecht oder kein Anrecht mehr auf die gezahlte Leistung hatte.
Verkündet in niederländischer und französischer Sprache, gemäss Artikel 65 des Sondergesetzes vom 6. Januar 1989 über den Verfassungsgerichtshof, in der öffentlichen Sitzung vom 20. September 2012.
Der Kanzler,
P.-Y. Dutilleux
Der Präsident,
M. Bossuyt